Matias Stumpfl verantwortete mit Thomas Kurzal die Generalsanierung des Wagenburg-Gymnasiums. Foto: HIIIS harder stumpfl schramm/KI/Midjourney/Montage: Ruckaberle
Die Generalsanierung des Wagenburg-Gymnasiums aus dem Jahr 1914 im Stuttgarter Osten hat viel Zeit, Geld und Nerven gekostet. Doch die Rettung des Baus überzeugt. Ein Rundgang.
Eine typische Eigenschaft der Stuttgarter ist und bleibt das Fremdeln mit guter Architektur. Der Stuttgarter, er bruddelt nun mal gern, ohne Respekt vor Rang und Namen. Und genau so ist es auch schon 1914 so gewesen. Bei der Einweihung der frisch errichteten Wagenburg-Bürgerschule im Stuttgarter Osten hält der neue Schulrektor Karl Pfeifle eine Rede, in der er genau dieses öffentliche Unbehagen am Entwurf des damals 28-jährigen Architekten Martin Elsässer anspricht: „Das Publikum, das stets nur dem äußeren Scheine nach urteilt, hat sich mit diesem Bau anfangs nicht auf den besten Fuß gestellt, man hat ihn bald ein düsteres, unfreundliches ‚Kloster‘, bald ein ‚Zuchthaus‘ genannt“, so Pfeifle, der bis 1930 Rektor an der Schule bleiben wird.
„Nun da der Bau fertig vor uns steht und sich trotz seiner Masse gut in seine Umgebung einfügt, lautet das allgemeine Urteil schon anders. Lassen wir aber noch ein paar Jahre ins Land gehen, bis die beiden Tortürmchen von den kräftiger gewordenen Linden überschattet werden, bis das zarte Grün der Akazien den Schulhof säumt, bis von den Mauern des viel geschmähten Vorgärtchens die Schlingrosen ihre Ranken herabsenden, bis auf der Nordseite der Bau mit wilden Reben überwachsen sein wird, dann müssen wir alle gestehen, dass es im Bereiche von Groß-Stuttgart kein eigenartigeres und schöneres Schulhaus geben wird.“
Eine Schule im Stuttgarter Osten für die Kinder der Arbeiterschicht
Zitiert wird Pfeifles kurzer und doch überaus weitsichtige Architekturkommentar im Stuttgarter Neuen Tagblatt, einer liberalen Tageszeitung und neben dem eher konservativen Schwäbischen Merkur die wichtigste Zeitung in Württemberg vor 1945. Dass die versöhnliche Ansprache des Rektors dermaßen prominent in der letzten Aprilwoche im Jahre 1914 genau in diesem Blatt erscheint, hat gute Gründe.
Diese Schularchitektur ist für ihre Zeit tatsächlich zukunftsweisend. Infolge der Industrialisierung steigt die Einwohnerzahl in Stuttgart rapide, neue Siedlungen im Osten der Stadt entstehen. Und die vielen Kinder der Zugezogenen – Arbeiter, Handwerker, kleine Angestellte – müssen in die Schule.
Die Villenbewohner ärgerten sich über die Schule
Zukunftsweisend ist einerseits, dass ein fortschrittliches Bildungskonzept sich in der Architektur spiegelt. Bildung soll in angenehmer Atmosphäre entstehen, gerade auch in der Wagenburg-Bürgerschule, in der die Kinder und Jugendlichen auf handwerkliche und technische Berufe ohne akademische Laufbahn vorbereitet werden. Eine moderne Lüftungsanlage wird installiert. Die sanitären Einrichtungen finden sich nicht mehr auf dem Schulhof, sondern auf den Stockwerken.
1914 erbaut, jetzt in neuem Glanz erstrahlt: Das Wagenburg-Gymnasium in Stuttgart. Foto: Lichtgut/Christoph Schmidt
Die Stadt kümmert sich um das Potenzial, das in der Arbeiterschicht schlummert und setzt Zeichen. Deswegen ist auch die Positionierung des Schulgebäudes ein Statement. Der Bau der Bürgerschule entsteht genau dort, wo ihn eigentlich manche Großbürger nicht haben wollen. Der Architekturkritiker des Neuen Tagblatts schreibt am 24. April 1914: „So günstig die Lage der Schule in städtebaulicher Hinsicht ist, so schmerzlich war allerdings die Wirkung für die umwohnenden Villenbewohner, die durch den riesigen Schulkomplex den schönsten Teil ihrer Aussicht verlieren mussten.“
Viel diskutierte und umstrittene Sanierung des Stuttgarter Gymnasiums
111 Jahre später ist von dieser Atmosphäre in diesem Teil der Stadt nur noch wenig zu erspüren. Das ist zwar immer noch weithin sichtbar exponiert, doch die Bebauung der Nachbarschaft ist typisch dicht. Nachdem viele Jahre lang über die längst überfällige Generalsanierung des denkmalgeschützten, im Krieg schwer beschädigten Gymnasiums diskutiert und gestritten und schließlich das Projekt bei laufendem Schulbetrieb gestemmt wurde, kann man das Gebäude nun in voller Pracht besichtigen.
Beim Besuch zu schulfreier Zeit erklären, im ersten Stockwerk des Gebäudes Halt machend, die verantwortlichen Architekten Matias Stumpfl und Thomas Kurzal vom Stuttgarter Architekturbüro Harder Stumpfl Schramm, was hier eigentlich seit den Sommerferien 2021 alles passiert ist. Was erhalten und rekonstruiert wurde, was aber auch verändert werden musste. „Wir bauen nicht einfach nach“, sagt Matias Stumpfl. „Manches müssen wir rekonstruieren und ersetzen, anderes können und sollen wir neu interpretieren.“ Zum Beispiel die Decken. Bauleiter und Projektarchitekt Thomas Kurzal beschreibt, wie anspruchsvoll allein die zeitgemäße Ertüchtigung der Deckenkonstruktion in diesem Fall war.
Ohne Brandschutz geht es nicht
Die alten Rippendecken sind zwar original aus dem Jahr 1914, doch nach den heutigen Standards waren sie nicht mehr allesamt für die Lasten ausreichend tragfähig. Also mussten Stahlträger eingezogen werden. Und brandschutztechnisch musste bei den Decken ebenfalls ordentlich nachgearbeitet werden. Brandschutz geht zwar vor, doch darf die Ästhetik nicht ausgeblendet werden.
Das gilt auch für die rund 120 neuen Türen, etwa zu den Klassenzimmern. „Die bestehenden Türen wurden alle durch neue ersetzt, die Türblätter wiederhergestellt. Nun besitzen sie wieder Kassettierungen wie einst, erfüllen aber auch die heutigen Brandschutzanforderungen“, sagt Kurzal, der mittlerweile jeden Winkel dieses Gebäudes bestens kennt.
Enge Abstimmung mit dem Denkmalamt
Man ist zwar Architekt, doch manchmal ist man auch Historiker und Restaurator. Matias Stumpfl erklärt, was so eine Generalsanierung an Sachkenntnis erfordert. „In Abstimmung mit dem Denkmalamt wurde zunächst eine umfangreiche Bestandsaufnahme durchgeführt“, sagt Stumpfl. „Das Denkmalamt interessiert sich für den Erhalt des Historischen. Wenn wir Befunde haben, müssen wir diese beachten. Wir beginnen damit, dass wir etwa ins Stadtarchiv gehen und recherchieren. Glücklicherweise findet sich noch vieles an verwertbaren Dokumenten, Zeichnungen, auch Fotografien.“
Das ist eine langwierige Sache, das ganze Material zu sichten. Letztlich ist es aber die Grundlage, um mit dem Denkmalamt ins Gespräch zu kommen, wie es Stumpfl beschreibt. Die viele Monate dauernde Recherche in den Archiven nimmt den Architekten niemand ab.
Keine düsteren Angsträume
Doch wie gesagt: Wer sucht, der findet auch. Und Martin Elsässers realisierte Vision einer für die damalige Zeit modernen Bildungsanstalt ist wieder rekonstruiert. Das Raumgefühl mit den hohen Gewölbedecken in den langen, wie ein Boomerang gebogenen Schulfluren ist wunderbar.
Es ist hell, ja einladend, alles ist wertig, die Aufwertung der Sitznischen in den Gängen ist ein echtes Plus. Da sind keine düsteren Angsträume vorhanden, wie man sie selbst aus anderen Schulbauten aus dem 19. Jahrhundert vielleicht noch als Schüler kennen- und hassen gelernt hat.
Shooting-Star aus Tübingen: Martin Elsässer
Dass Stumpf und Kurzal großen Respekt vor dem Können Martin Elsässers haben, wird mehr als deutlich, akribisch und sensibel haben sie den Bau saniert. Der gebürtige Tübinger Martin Elsässer ist seinerzeit ein Shooting-Star seiner Zunft. Noch bevor Elsässer sein Examen macht, gewinnt er 1905 einen Wettbewerb – den um die Lutherkirche in Baden-Baden. Es ist das erste Bauwerk des gerade mal 21-Jährigen. Ein Alter, in dem andere gerade mal mit ihrem Studium anfangen.
Nach dem Examen wird er Assistent von Paul Bonatz, dem Baumeister des Stuttgarter Hauptbahnhofs. 1913 erhält Elsässer eine Professur an der TU Stuttgart. 1912 schreibt die Stadt Stuttgart einen Wettbewerb für ein Doppelschulhaus im Stuttgarter Osten aus, für die erwähnte Bürgerschule und eine Volksschule mit je 18 Klassenzimmern, zusätzlich soll es spezielle Werkräume geben sowie eine Turnhalle. 104 Architekten beteiligten sich an dem Wettbewerb, den Zuschlag erhält Martin Elsässer erst einmal aber nicht, er wird nur Dritter.
Trotzdem darf schlussendlich Elsässer den Schulbau realisieren, der zur gleichen Zeit die heute ikonische Markthalle wie auch die Gaisburger Kirche projektiert. Der Grund: Anders als die beiden vor ihm platzierten Entwürfe berücksichtigt Elsässer die geologischen Gegebenheiten. Die Krümmung des Baukörpers folgt dem Felsen, auf dem das Fundament errichtet ist. Elsässer benötigt im Unterschied zum Siegerentwurf für das Hauptgebäude keine zusätzlichen Aufschüttungen.
Reizvolle Fassadengestaltung dem Bau im Stuttgarter Osten
Diese bewusste Bezugnahme auf die Umgebung wie auch die filigrane Gestaltung der Fassade ist für den Architekten Matias Stumpfl bis heute so reizvoll. „Das Thema des Fensters hat uns lange beschäftigt. Unseren Recherchen zufolge war man 1914 durchaus in der Lage, die vielen Fenster ohne Sprossen herzustellen“, erklärt Stumpfl, denn bis vor einigen Jahren waren einfache Fenster verbaut. Dank der Sprossen wirken die Schulzimmer fast wohnlich.
„Doch Elsässer hat die Sprossen bewusst eingesetzt, das war sein architektonischer Wille. Und man erkennt nach eingehender Analyse: ja, sie sind als Gestaltungselemente wichtig für die Außenansicht des langen Baukörpers. Dieses Spiel von Feingliedrigkeit und Fläche an der Fassade ist so beabsichtigt und in der Tat faszinierend.“
Schade, dass nicht jede sanierungsbedürftige Schule in diesem Land so viel fachkundige Aufmerksamkeit erfährt. Wahrscheinlich wäre auch Martin Elsässer mit der Generalsanierung seiner Wagenburg-Schule höchst zufrieden. Man sieht an diesem Beispiel: gute Architektur ist nachhaltige Architektur. Das lässt selbst die üblichen Stuttgarter Bruddler verstummen.
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