Hoher Besuch an der Waldorfschule Gutenhalde in Bonlanden: Oberstufenschüler durften mit dem Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann über Politik diskutieren.
„76? Der ist ja älter als mein Opa?“ Noch bevor Winfried Kretschmann überhaupt auf der Bühne Platz genommen hat, setzt es im Publikum Fragen über Fragen. Wo wird er sitzen, sind die anderen Stühle für die Bodyguards gedacht, und ist Winfried Kretschmann eigentlich Single? Immer wieder stecken Jugendliche die Köpfe zusammen, um zu tuscheln. Die Aufregung ist groß an diesem Abend in der Waldorfschule Gutenhalde in Bonlanden. Der Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg hat sich angekündigt, um mit Schülerinnen und Schülern der Oberstufe über Politik zu diskutieren, und zahlreiche Teenager und Lehrkräfte wollen dabei sein.
Dass der ranghöchste Politiker im Land mal eben vorbeischaut, kommt laut Alexander Fuchs, dem Geschäftsführer der Schule, nicht von ungefähr. Tatsächlich sei er bereits zum dritten Mal hier und der Schule sehr verbunden. Vor Jahren als Abgeordneter sei Winfried Kretschmann mal in Raumnot geraten, die Schule habe spontan ausgeholfen. „Wenn Sie dann Ministerpräsident sind, denken Sie an uns“, habe Alexander Fuchs damals zu ihm gesagt. Und nun, da die Waldorfschule Gutenhalde sich zum 40-jährigen Bestehen im Festjahr befinde, habe er sein Versprechen erneut eingelöst.
Sechs junge Leute dürfen dem Chef der Landesregierung auf dem Podium Fragen stellen, die sie im Unterricht erarbeitet haben. Es geht ums Klima, um die Wirtschaft, um Migration und den Rechtsruck im In- und Ausland. Vor allem letzterer Themenkomplex liegt den jungen Leuten augenscheinlich am Herzen. Zum Thema Asyl zeigt Winfried Kretschmann seine klare Meinung. Das Asylrecht für Verfolgte sei ein Grundrecht, die Freizügigkeit indes ein Bürgerrecht, „das verleiht der Staat. Es gibt kein weltweites Recht auf Freizügigkeit“. Die irreguläre Migration müsse daher eingedämmt werden. „Ich bin da sehr klar, aber meine Partei nicht. Meine Partei steht für Humanität, aber Humanität gibt es nur in der Ordnung.“ Ähnlich eindeutig beantwortet er die Frage, wie die Politik die Probleme der schwächelnden Automobilbranche lösen könne. „Erst mal müssen die ihre Probleme selber lösen“, sagt er, E-Fahrzeuge müssten preiswerter und auch attraktiver werden, um China mehr entgegensetzen zu können. Die Voraussetzungen seien indes schlecht. „Wir haben keine starke eigene Batterieproduktion in Europa“, auch das Ladenetz sei unzureichend, vor allem im europäischen Ausland. In seinen Augen müsse der Ladestrom an den Säulen subventioniert werden.
Beim Thema Rechtsruck wird der Landesvater philosophisch. „Im Menschen kämpfen immer zwei Seiten“, sagt er. Die Fremdenfeindlichkeit sei dem Menschen ebenso immanent wie die Neugier, und beides könne man mobilisieren. Die Angst vor dem Fremden nutzten Rechtspopulisten, „das wird auch getriggert durch soziale Netze“. Medien wie Facebook und Co. seien die neuen Stammtische, nur dass ungleich mehr Menschen diskutierten und zuhörten. Kretschmann entlässt die Schülerschaft nach einer guten Stunde mit einer Bitte in den Abend: Freiheit sei das Wesen der Demokratie, und wir lebten in einer Gesellschaft mit 80 Millionen Meinungen. „Die Grundlage der Demokratie ist, dass man Fakten anerkennt.“ Über Tatsachen müsse man sich verständigen können, auch in einer Gesellschaft der Verschiedenen. Er betont: „Der zivilisierte Streit hält die Gesellschaft zusammen. Der unzivilisierte treibt sie auseinander.“