Eine alltägliche Situation in der Stuttgarter Innenstadt: Auto- und Fahrradfahrer kommen sich an der Einfahrt zum Parkhaus des Dorotheen Quartiers in die Quere Foto: Lichtgut/Max Kovalenko
Zwischen Autofahrern und Radfahrern kommt es häufig zu Konflikten. Der Freiburger Psychologe Rul von Stülpnagel fordert mehr Bewusstsein für die Perspektive des anderen – und eine klügere Verkehrsplanung.
Jannik Jürgens
18.11.2024 - 11:35 Uhr
Auf dem Schreibtisch des Freiburger Kognitionswissenschaftlers Rul von Stülpnagel liegen ein Fahrradhelm und eine Butterbrotdose. Den Weg ins Büro im Freiburger Institutsviertel bewältigt der Forscher mit dem Fahrrad. Mit dem Auto würde er länger brauchen.
Das hat mit falschen Erwartungen zu tun. Das Auto verspricht Freiheit, Geschwindigkeit und Lässigkeit. Und was passiert, wenn ich mich in der Stadt ins Auto setze? Ich stehe im Stau. Hinzu kommt, dass Menschen zu sehr optimistischen Planungen neigen. Sie denken, dass es bloß eine Viertelstunde dauert, um das Kind zum Kindergarten zu bringen und zur Arbeit zu fahren. Doch sie vergessen die rote Ampel und die Straßenbahn. Dann wird es eng. Und die Radfahrenden ziehen auch noch an ihnen vorbei. Radfahrende sind dann für Autofahrende oft ein dankbares Objekt, um den Frust rauszulassen.
Radfahrer halten sich zudem oft nicht an Verkehrsregeln. Sie fahren über rote Ampeln oder wechseln auf den Fußweg, um schneller voranzukommen. Fühlen sich Autofahrende davon provoziert?
Radfahrende haben diese Freiheit, die sich Autofahrende wünschen. Ich will Regelverstöße von Radfahrenden nicht rechtfertigen, oft sind sie gefährlich, und man sollte sich an die Regeln halten. Aber als Radfahrender steht man oft zwischen den Welten. Unser Verkehrssystem ist auf Autos ausgerichtet. Da stoßen Radfahrende regelmäßig an Grenzen. Dann sollen sie – den Regeln nach – absteigen und schieben. Sie können diese Situation allerdings auch kreativ nutzen.
Nachdem der Pforzheimer Radaktivist Andreas Mandalka Ende Januar von einem Auto überfahren wurde und dabei starb, verwüsteten Unbekannte seine Gedenkstätte am Straßenrand. Was geht da in den Köpfen vor?
Ein solches Verhalten lässt sich nicht rechtfertigen. Aber ich kann versuchen, es zu erklären. Mandalka ist als Radaktivist für manche zu einem Symbol geworden, zur Inkarnation des selbstgerechten Radfahrenden, der sich moralisch überlegen fühlt und meint, anderen erklären zu müssen, wie sie sich verhalten sollen. Ich sage nicht, dass es so war. Aber einige Menschen nehmen es wohl so wahr.
Und warum nehmen diese Menschen das so wahr?
Radfahren liegt im Trend, insbesondere seit der Corona-Pandemie. Die Radlobby hat die moralische Überlegenheit auf ihrer Seite. Und mittlerweile weiß wahrscheinlich jeder Autofahrende, dass Radfahren gesünder, besser fürs Klima und besser für die Innenstädte ist. Aber das macht es ja nicht besser, wenn man selbst keinen Bock darauf hat oder auf das Auto angewiesen ist. Trotzdem wird diesen Menschen von allen Seiten vermittelt: Hey, was du machst, ist nicht gut!
Ich persönlich kenne keinen Radfahrer, der Autofahrer bekehren will. Trotzdem haben Symbole wie Lastenräder eine enorme Trigger-Wirkung.
Ganz erklärlich ist es nicht. Manche Menschen fühlen sich anscheinend unter Druck gesetzt. Ein Mechanismus, den Menschen dann anwenden, besteht im persönlichen Abwerten. Sie sagen: Radfahrende sind doof, ihre Argumente zählen nichts, sie sind schlechte Menschen und haben keine Ahnung. Letztendlich ist das Selbstschutz.
Rul von Stülpnagel Foto: privat
In einer australischen Studie sprach etwa die Hälfte der Nicht-Radfahrer den Radfahrern das Menschsein ab. Sie betrachteten Radfahrer auf einer Affe-zu-Mensch-Skala als weniger entwickelt.
Wenn man sich die Studie genau anguckt, wird deutlich, dass die Aussage überspitzt ist. Die Ergebnisse speisen sich aus Fragen, die den Autofahrenden gestellt worden sind. Zum Beispiel: Nehmen Sie Radfahrende als intelligente, logisch denkende Wesen wahr? Dabei haben die Autofahrenden die Radfahrenden etwas schlechter bewertet als andere Menschen. Und dann haben die Forscherinnen und Forscher den ausschlaggebenden Wert, bei dem Radfahrenden die Menschlichkeit abgesprochen wird, sehr hoch angesetzt. Dabei führt allein schon die Formulierung der Fragen und das Setting – hier der Autofahrende, dort der Radfahrende – dazu, dass die Menschen sich voneinander abgrenzen. Man kann die Studie auch nicht auf Deutschland übertragen. In Australien liegt der Anteil der Strecken, die mit dem Rad abgedeckt werden, weit unter dem deutschen Schnitt. Radfahrende sind in Australien noch stärker marginalisiert. Ihnen schlägt mehr Hass entgegen.
Könnte man den Konflikt entschärfen?
Erst mal sollte man dem anderen nicht immer Absicht zu unterstellen. Autofahrende versuchen in den meisten Fällen nicht, Radfahrende vom Rad zu holen. Sie schätzen den Abstand beim Überholen falsch ein und wissen oft nicht, wie sich ein knappes Überholmanöver auf dem Rad anfühlt. Ein Perspektivwechsel kann viel Verständnis erzeugen.
Die Verkehrspolitik versucht, den Konflikt durch eine räumliche Trennung zu entschärfen. In den Niederlanden wird das teilweise sehr konsequent gemacht. Dort gibt es getrennte Systeme für Radverkehr und Autoverkehr. Die Stadt Münster ist diesem Beispiel bereits gefolgt. Das Problem ist, dass es in den meisten Städten dafür nicht genügend Platz gibt. Und an den Stellen, wo Räder und Autos doch aufeinandertreffen, gibt es viele Unfälle.
Welche Wege gehen andere Städte?
In Freiburg wird der Verkehr oft auf einer Straße geführt, mit einem weißen Streifen zwischen Autos und Fahrrädern oder rot eingefärbten Radstreifen. Im besten Fall führt das zu gegenseitiger Rücksichtnahme und gegenseitigem Respekt. Doch auch dort bestehen Unterschiede in der Wahrnehmung. In unseren Umfragen haben Autofahrende diesen Streifen als sicher empfunden. Radfahrende fanden ihn zwar sicherer als keinen Streifen, aber wenn er sehr eng war und Autos daneben parkten, fühlten sie sich eingekesselt. Interessant ist auch: Autofahrende halten sich so gut wie nie an die 1,5-Meter-Abstand-Regel, wenn sie Radfahrende auf einem Streifen überholen. Dabei gilt diese Regel auch dort.
Wenn Autofahrer sich an den Abstand halten würden, könnten sie Radfahrer oft nicht überholen.
Die Situation lädt dazu ein, die Regel zu brechen. Wenn Autofahrer hinter dem Radfahrenden bleiben, hupen die Autos hinter ihnen ganz schnell. Sie werden als Verkehrshemmnis wahrgenommen. Eigentlich hapert es daran, dass viele Radfahrstreifen nicht breit genug sind. Wenn die Streifen 2,5 Meter breit wären, könnten Autofahrende mit ausreichendem Abstand überholen.
Vielleicht gibt es Radfahrer, die sich denken: Wenn die Autos mich so nah überholen, darf ich im Gegenzug über eine rote Ampel fahren.
Das ist eine fatale Logik, die dazu führen würde, dass sich niemand mehr an Regeln hält. Ich habe letztes Jahr eine erste Umfrage zu Regelverstößen von Radfahrenden durchgeführt. Wir stehen mit der Forschung am Anfang, aber es kam heraus, dass es für den Einzelnen oft einen guten Grund gibt. Meist verstießen die Radfahrenden gegen eine Regel, weil es sich für sie sicherer anfühlte, sie Zeit oder Energie sparten.
Mit dem Auto würde ich auch Zeit sparen, wenn ich über rote Ampeln führe.
Der große Unterschied ist, dass Sie als Autofahrender anderthalb Tonnen Metall durch die Gegend bewegen. Wenn Sie jemanden übersehen, gefährden Sie andere. Als Radfahrender gefährden Sie eher sich selbst. Außerdem ist unser Verkehrssystem auf Autos ausgerichtet. Radfahrende müssen oft gegen Regeln verstoßen, wenn sie einigermaßen effizient vorankommen wollen.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Nehmen sie eine große Ampelkreuzung, an der Sie als Radfahrer links abbiegen wollen. Das können Sie oft nur indirekt machen, indem Sie zunächst geradeaus über die Straße fahren, sich dann wieder aufstellen und ein zweites Mal auf Grün warten. Oft gibt es keinen Aufstellstreifen, Sie landen bei den Fußgängern und müssen schieben. Oder Sie ziehen gleich am Anfang über drei Spuren auf die Linksabbiegerspur.
Bislang hat man vor allem versucht, mit Plakaten, Kampagnen und Verkehrserziehung auf Regelverstöße zu reagieren. Das bringt aber oft nichts. Deswegen suchen wir nach Orten, die so schlecht geplant sind, dass dort immer wieder gegen Regeln verstoßen wird. Etwa Kreuzungen, bei denen regelmäßig über Rot gefahren wird. Dort muss man etwas ändern. Und wir haben die Hoffnung, dass die Menschen durch unsere Forschung ein Bewusstsein für die Perspektive der anderen entwickeln. Fußgänger bekommen Angst, wenn Radfahrende sie eng überholen. Und auf Autofahrende können Radfahrende erratisch wirken, wenn sie sich im letzten Moment irgendwo einfädeln. Sie haben Sorge, nicht mehr reagieren zu können.
Das Gespräch führte Jannik Jürgens.
Zur Person
Rul von Stülpnagel, 44, arbeitet als Kognitionswissenschaftler am Institut für Psychologie der Universität Freiburg. Seit 2014 beschäftigt er sich mit dem Thema Radverkehr