Welcher Erziehungsstil passt zum Kind? Macht euch mal locker, liebe Eltern!
Wie man richtig erzieht, ist heute umstrittener denn je. Statt serienweise Ratgeber zu lesen, darf man sich ruhig auf die Intuition verlassen.
Wie man richtig erzieht, ist heute umstrittener denn je. Statt serienweise Ratgeber zu lesen, darf man sich ruhig auf die Intuition verlassen.
Tatort Spielplatz, mitten in München: An der Rutsche ist der Andrang groß, mehrere Kinder bahnen sich den Weg nach oben. Vorne schubst ein Junge das Mädchen weg, das eigentlich dran wäre, und rutscht selbst runter. „Finde ich toll, wie Noah sich durchsetzen kann!“, sagt die Mutter Danach spielen alle weiter, als wäre nichts geschehen.
Wer eine solche Szene beobachtet, dem wird schnell unbehaglich. Entwickeln sich kleine Kinder zu rücksichtslosen Brutalos, wenn man ihnen in solchen Situationen keine Grenze setzt? Alles halb so wild, könnte man sagen. Und außerdem: Was genau hätte die Mutter tun sollen? Über den Spielplatz „Sofort stopp, Noah!“ brüllen? Das klingt wenig gewaltfrei. Wie sähe die sanfte Alternative aus? Etwa: „Noah, das Mädchen ist traurig, wenn du sie nicht rutschen lässt.“
Erziehung ist kompliziert. Einig sind sich Eltern meist darin, dass sie einerseits eine rigide, autoritäre Erziehung ablehnen, andererseits zumindest ein paar Regeln als notwendig erachten. Dazwischen ist viel Raum für eine unüberschaubare Flut an Ratgebern, die sich mit Trends wie „bindungs- und bedürfnisorientierter Erziehung“, „Gentle Parenting“, „Resilienz stärken“ oder „Positive Parenting“ befassen.
„Die Tendenz gerade bei Akademikereltern ist, sehr viel zu lesen und am Ende verwirrt zu sein“, sagt Simon Meier, Leiter der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern der Katholischen Jugendfürsorge in Regensburg. „In unserer Beratungsstelle haben wir viele dieser Familien, die einfach sehr verunsichert sind.“
Dabei lohnt es sich nicht, sich über Erziehungstheorien den Kopf zerbrechen. Vieles ergibt sich sowieso von selbst. Mit guten Tipps ist Eltern ohnehin oft wenig gedient: Wer mehrere Kinder hat, weiß, wie unterschiedlich die Reaktionen auf ein- und denselben Kniff ausfallen können.
„Kinder prägen die Erziehung ganz stark mit“, sagt Oskar Jenni, Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich. „Man erzieht in Abhängigkeit vom Kind, von der individuellen Alltagssituation im Moment.“ Deshalb lässt sich weder sagen, welchen Erziehungsstil Eltern eigentlich anwenden, noch, welcher theoretisch der beste wäre.
Fragt man Geschwister rückblickend, wie sie die Erziehung der Eltern sehen, fallen die Antworten oft erstaunlich unterschiedlich aus, wie aus einer Studie hervorgeht, die in „Psychologie in Erziehung und Unterricht“ veröffentlicht wurde. „Es gibt keinen einheitlichen Erziehungsstil“, sagt Jenni. „Wir haben viele Inkonsistenzen in der Art und Weise, wie wir mit dem Kind umgehen.“
Unklar bleibt dabei auch, was überhaupt mit bindungs- und bedürfnisorientierter Erziehung gemeint ist – Stichworte, die unter anderem in den sozialen Medien große Themen sind. Bei beiden handelt es sich zwar um Übersetzungen von „Attachment Parenting“, einer Erziehungslehre des amerikanischen Kinderarztes William Sears, doch werden sie nicht unbedingt synonym verwendet. „Diese Begriffe sind nicht klar definiert“, sagt Peter Zimmermann, Professor für Entwicklungspsychologie an der Universität Wuppertal. „Das ist wie bei Diäten: Die Bezeichnungen verselbstständigen sich, und jeder versteht ein bisschen etwas anderes darunter.“
Gut erforscht und unbestritten ist laut Zimmermann lediglich die Bindungstheorie, wonach eine sichere Bindung zu einer Bezugsperson wichtig für die Entwicklung des Kindes ist. Dazu gehört, dass man Säuglinge eben nicht – wie in den 1950er Jahren üblich – zur Kräftigung der Lunge schreien lässt, sondern möglichst sofort tröstet. Gehen die Eltern auf die Bedürfnisse des Babys ein, stärkt das seine Selbstwirksamkeit, also das Vertrauen zu sich selbst.
Wer an diesem Prinzip jedoch unerschütterlich festhält, wenn Kinder größer werden, bekommt schnell Probleme. „Bedürfnisse stehen immer in Konkurrenz zueinander“, sagt Simon Meier. „Es gibt neben den Bedürfnissen des Kindes auch die der Eltern, Geschwister und Freunde.“Auch wer sich bindungsorientiert verhalten möchte, kann leicht Missverständnissen erliegen.
So können stundenlange Zu-Bett-Geh-Rituale für Dreijährige Eltern komplett auslaugen. „Bindung ist wie ein Gummiband: Je älter Kinder werden, desto stärker leiert es aus“, sagt der Psychologe. „Ich muss mich als Eltern daher immer stärker zurücknehmen, immer entbehrlicher machen.“ Es kommt also auf eine gute Balance zwischen Bindung und Autonomie an: Der goldene Mittelweg verläuft für Eltern irgendwo zwischen Klammern und Laissez-faire.
Den Grundsatz „Erziehen auf Augenhöhe“, der Anhängern sanfter Konzepte oft als Ideal vorschwebt, lehnt der Psychologe Meier klar ab. „Wichtig für eine Bindungsperson ist, dass sie größer, stärker und schlauer sein muss“, betont er. „Sie muss von ihren Kompetenzen Gebrauch machen, um das Kind zu schützen, liebevoll zu begleiten und Verantwortung zu übernehmen.“
Was das nun im Detail heißen könnte, müssen Eltern selbst herausfinden. Patentrezepte für gute Erziehung gibt es nicht, wie der Entwicklungsforscher Jenni betont. Stattdessen plädiert er dafür, jeglichem Perfektionismus abzuschwören und sich bis zu einem gewissen Grad auf die Intuition zu verlassen. „Als Eltern scheitern wir immer wieder, jeden Tag. Das ist normal, das muss man ein Stück weit aushalten können. Die Kinder halten das auch aus, wenn wir uns an die fünf Vs halten.“ Damit meint Jenni Vertrautheit, Verlässlichkeit, Verfügbarkeit, Verständnis und viel Liebe.
Sind diese Grundvoraussetzungen gegeben, kann nicht allzu viel schiefgehen. Der Einfluss der Eltern wird laut Jenni ohnehin gern überschätzt. „Tatsächlich lassen sich viele Faktoren, die ein Kind in seiner Entwicklung maßgeblich prägen, kaum beeinflussen.“
Deshalb brauchen sich Eltern auch nicht ständig auf ihre Kinder zu fokussieren. Im Gegenteil, findet der Kinderarzt: „Es ist extrem wichtig, für sich selber zu sorgen, aber auch auf die Paarbeziehung zu schauen. Wenn Eltern sich gegenseitig unterstützen, achtsam miteinander umgehen, einen Dialog miteinander haben, dann erleben Kinder Sicherheit und Geborgenheit in der Familie.“
Das heißt aber nicht, dass Erwachsene sich komplett ausklinken sollten, wenn Kinder sich ausprobieren. Was wäre also die richtige Reaktion auf Noahs Rempelei an der Rutsche gewesen? Intuitiv hätten die meisten Eltern ihn wahrscheinlich irgendwie zurecht gewiesen – und das hätte auch schon gereicht. Ein egozentrischer Rambo wird Noah dennoch nicht gleich werden. „Erziehung verzeiht Fehler“, sagt Meier. Hauptsache, man macht es einigermaßen richtig.