Badiah Jazzaa hat eine neue Heimat in Tübingen gefunden. Foto: Andy Reiner
Kämpfer des Islamischen Staates haben ihre Familien ermordet, sie versklavt, verkauft und vergewaltigt. Mittels eines Sonderkontingents hat Baden-Württemberg vor zehn Jahren 1000 Frauen und Kinder gerettet. Zwei junge Frauen erzählen, wie sie ein neues Leben begonnen haben.
Der August ist für Hakeema Taha kein guter Monat. Schwarz nennt sie ihn. Er verdunkelt ihr Leben. Es wird auch im zehnten Jahr nicht besser. 19 ihrer Angehörigen hat die heute 29-Jährige im August 2014 verloren. 15 Familienangehörige, darunter ihre Eltern, wurden ermordet, vier gelten noch als vermisst. Sie selbst wurde von den Kämpfern des Islamischen Staates (IS) verschleppt, versklavt, verkauft, vergewaltigt. Wie alle anderen Jesiden sollte sie zum Islam konvertieren. Sie war drei Monate in Gewalt des IS, bis es ihr gelang, ihren Peinigern in der syrischen Stadt Rakka zu entkommen. Es war ihr dritter Versuch. Hakeema Tahas Heimat war das Dorf Kodscho im Nordirak. Dass sie nach langen Jahren in Tübingen nun in einem Pflegeheim in Nordrhein-Westfalen arbeitet, ist bei aller Traurigkeit auch Teil einer Erfolgsgeschichte.
Hakeema Taha ist eine der Frauen, die das Land Baden-Württemberg im Rahmen eines Sonderkontingents von Januar 2015 bis Januar 2016 mit 14 Flügen aus den Flüchtlingslagern im Nordirak nach Deutschland geholt hat. Insgesamt kamen 1100 Menschen – 600 Frauen und 500 Kinder. Hakeema nennt sich eine Überlebende des Genozids. Wie viele andere Frauen hat sie sich ihren Ängsten gestellt. Nie zuvor war sie im Ausland. Sie hat das Leben in Deutschland erlernt, ebenso wie die deutsche Sprache. Sie hat eine Ausbildung als Pflegeassistentin abgeschlossen. „Ich mag alte Menschen“, sagt sie. Sie arbeitet in einem Pflegeheim. Vielleicht auch deshalb, weil es in ihrer Familie die Generation der Alten fast nicht mehr gibt. Wenn sie einer alten Frau den Nacken massiert, denkt sie an ihre Mutter. Die wollte sie bis zum Lebensende um- und versorgen. Das sind die schönen und gleichzeitig auch schmerzhaften Erinnerungen an das Leben vor August 2014.
Jan Ilhan Kizilhan hat als Psychologe und Traumatherapeut die Rettungsaktion zusammen mit Michael Blume geleitet. Foto: Mediklin/KAV
Rückblende: In der Nacht auf den 3. August 2014 steht das Telefon des Traumatherapeuten Jan Ilhan Kizilhans im Schwarzwald nicht still. Die Anrufe kommen aus dem Nordirak. In dieser Nacht beginnt der Völkermord an den Jesiden. Kämpfer des islamischen Staates dringen in ihr Gebiet ein. Kizilhan bekommt Anrufe von verzweifelten Menschen, die er aus seiner Arbeit als Forscher und von seinen Reisen in die Region kennt. Er hört im Hintergrund Schüsse und die verzweifelten Schreie der Menschen. Der Diplompsychologe, der über die Jesiden geforscht, über ihre Verfolgungsgeschichte und auch den Islam Bücher geschrieben hat, gibt immer dieselbe Antwort, wenn die Menschen fragen, was sie tun sollen: „Ihr müsst dieses Gebiet verlassen.“ Es geht ums nackte Überleben. Für viele ist seine Telefonnummer die Notrufnummer schlechthin, ein Hilferuf an Deutschland. Und der Leiter des Instituts für Transkulturelle Gesundheitsforschung an der Dualen Hochschule Villingen-Schwenningen verspricht, sich um Hilfe zu kümmern. Er ist Experte für die Möglichkeiten der Traumatherapie.
Zusammen mit Michael Blume, der damals noch Referatsleiter für Kirchen, Religion und Integration im baden-württembergischen Staatsministerium ist, leitet er fünf Monate später das Team, das diese Rettung organisieren und durchführen wird. Wie für alle Beteiligten ist die Aktion die wahrscheinlich sinnstiftendste Episode in ihrem Leben. Dennoch belastet Michael Blume trotz aller Dankbarkeit bis heute der Gedanke, „dass wir Terrorregime und die Kriege durch den Kauf von Öl und Gas finanzieren“.
In Kodscho erlebt auch die heute 29-jährige Badiah Jazzaa die Nacht vom 2. auf den 3. August 2014. Sie hört, wie die Männer in ihrer Familie über Krieg sprechen. Unruhe liegt über dem Dorf, in dem ihr Vater Bürgermeister ist. Zwei Wochen verschanzen sich die Dorfbewohner, aus dem auch Hakeema Taha kommt. Muslimische Nachbarn, denen sie vertrauen, sagen, der IS werde am Dorf vorbeiziehen. Doch dann kommen die Kämpfer des IS, ermorden die meisten Männer und männlichen Jugendlichen und entführen die Mädchen und Frauen. Auf Pickups transportieren sie ihre „Beute“ ab, um sie zu versklaven und weiterzuverkaufen. Nach vielen Versuchen gelingt Badiah Jazzaa die Flucht. Ihr letzter Besitzer ist ein IS-Kämpfer aus den USA.
Michael Blume hat von Ministerpräsident Kretschmann den Auftrag für die Rettungsaktion bekommen. Foto: dpa/Stefanie Järkel
Das Martyrium der Jesiden und Jesidinnen findet vor den Augen der Welt statt. Schnell sind Videos und Bilder von Hinrichtungen, Gewalt und Erniedrigungen in den Sozialen Medien zu sehen. Der IS vermarktet seine Gräueltaten auf perfide Art und Weise. Diese Bilder sieht man auch in Baden-Württemberg. Viele Rädchen müssen ineinander greifen, Gespräche geführt, bürokratische Hindernisse aus dem Weg geräumt werden, erinnert sich Michael Blume, bis die Rettungsaktion beginnen kann. Den Ausschlag, diesen für alle Beteiligten politisch und persönlich gefährlichen Weg zu gehen, gibt nach Blumes Einschätzung ein Treffen des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Grüne) und des Chefs der Staatskanzlei Klaus-Peter Murawski mit Vertretern der Jesiden. Sie sehen erschütternde Beweise für die Taten des IS. Blume sagt ja, als Kretschmann ihn am 23. Dezember 2014 fragt, ob er diese Mission organisieren und leiten will.
„Es wird nicht besser“, sagt auch Badiah Jazzaa, wenn sie über ihre Gefühle angesichts des herannahenden Jahrestages spricht. „Wir haben alles verloren: das Leben, die Familie, uns selbst. Einfach alles.“ Nie werde sie das vergessen. Ihre Hoffnung, dass die vermissten Familienmitglieder noch leben, ist inzwischen erloschen. Badiah Jazzaa sitzt in ihrer Wohnung in Tübingen. Neben ihr auf dem Sofa spielt ihre fünfjährige Tochter. Sie weiß, dass ihre Mutter Schlimmes erlebt hat, kennt aber keine Details. „Aber sie ist schlau, denn sie fragt, wo meine Mama und mein Papa sind“.
Badiahs Jaazaas Mann ist bei der Arbeit. Das Ehepaar arbeitet zeitversetzt in zwei Schichten. Wenn seine Frau aus einer Praxis für Kieferorthopädie nach Hause kommt, geht er zu seinem Job in einem Restaurant. Und doch sagt Badiah Jazzaa: „Ich bin dankbar, dass Deutschland mir ein neues Leben gegeben hat.“ Am 15. Dezember 2015 kommt sie zusammen mit Hekeema Taha und vielen anderen auf dem Stuttgarter Flughafen an. Ein Bus bringt sie nach Tübingen. Schon am darauffolgenden Tag starten Therapeuten und Sozialarbeiter ihre Betreuung.
Am Anfang hat sie viel Heimweh. Alles ist fremd. Heute kann sich die junge Frau nicht mehr vorstellen, wieder im Irak zu leben. Die Jesiden leben dort noch immer in Camps, haben keine Rechte. Einmal war sie wieder im zerstörten Kodscho. Es war kein guter Tag. Badiah Jazzaa hat mit einer kanadischen Journalistin ein Buch über ihre Erlebnisse während des Genozids geschrieben und schon vor der Aufnahme ins Kontingent Vorträge in den USA gehalten.
Hakeema Taha arbeitet heute in einem Altenheim Foto: StZN/privat
Wie Hakeema Taha hat sie sich gegen das Schweigen entschieden. Wenn ihre Tochter alt genug ist, soll sie erfahren, was ihrer Mutter und den Jesiden widerfahren ist. 74 Genozide zählt deren Geschichte. Aber es hat sich etwas verändert. „Die alten Strukturen der traditionellen Männergesellschaft funktionieren nicht mehr. Es sind Frauen wie die Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad, Badiah Jazzaa und Hakeema Taha, die stellvertretend für die anderen Frauen vom Völkermord erzählen“, sagt Kizilhan. Sie geben den anderen damit Mut und Hoffnung. „Ich bin durch das, was ich erlebt habe, richtig stark geworden“, sagt Badiah Jazzaa. „Wir haben gelernt, in die Zukunft zu schauen und wie man wieder Hoffnung schöpft“, sagt auch Hakeema Taha. Auch wenn Phasen der Dunkelheit für immer zum Leben gehören.