Das Stadtmuseum möchte Stuttgarts Geschichte von 1950 bis heute mit den Bürgern erarbeiten. Im Rahmen dieses Projekts spricht die StZ mit Stuttgartern über ihre Jugend. Die Brüder Michele und Antonio Di Gennaro bauten in den 60ern ihren Feinkosthandel in Stuttgart auf.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Das Stadtmuseum möchte Stuttgarts Geschichte von 1950 bis heute mit den Bürgern erarbeiten – jeder kann mitwirken. Im Rahmen dieses Projekts spricht die StZ mit sechs namhaften Stuttgartern über ihre Jugend. Die Feinkosthändler Michele und Antonio Di Gennaro berichten über die Sechziger.

 

Sie waren bitterarm, als sie 1961 aus Süditalien nach Stuttgart kamen: Der heute 76-jährige Michele Di Gennaro und sein sechs Jahre jüngerer Bruder Antonio Di Gennaro arbeiteten als Maurer und Fabrikarbeiter. Heute ist ihr Unternehmen für italienische Feinkost bundesweit bekannt – eine fantastische Karriere.

Sie beide sind am 5. Mai 1961 um 15.15 Uhr am Stuttgarter Hauptbahnhof angekommen. Wissen Sie noch, wie Sie sich gefühlt haben?
Michele: So etwas kann man nicht vergessen. Wir sind von unserem Heimatort San Nicandro in Süditalien zuerst nach Foggia und dann nach Verona mit dem Zug gefahren. Dort gab es eine deutsche Kommission, die uns ärztlich untersucht hat. Antonio wollten sie zurückschicken nach Hause; er sei doch noch ein Kind [Antonio war 15 Jahre alt]. Ich habe gesagt, er hat immer gearbeitet, schaut mal die Schwielen auf seinen Händen an. Wie soll ich meinen Bruder allein zurücklassen?
Man hat sie beide dann ziehen lassen.
Antonio: Als wir in Stuttgart ankamen, war es sehr heiß, und wir hatten richtig Durst. Wirklich Durst. Ein Mann von der Baufirma Schäfer hat uns abgeholt, und er hat uns immer gefragt: ‚Wollt ihr etwas zu trinken?‘ Aber wir haben nichts verstanden und deshalb immer den Kopf geschüttelt.
Michele: Wir fuhren direkt zum Fasanenhof, der damals eine riesige Baustelle war.
Dort haben Sie auch gewohnt?
Antonio: Ja, in einem Bauwagen, zusammen mit zwei italienischen Landsleuten. Einer war schon älter, und abends hat er sein Gebiss immer auf den Tisch gestellt.
Sie sind aus purer Not aus Süditalien weg. Nochmals die Frage: Wie ging es Ihnen im fremden Deutschland?
Antonio: Mir ging es hervorragend. Nicht, weil ich unbedingt von zuhause hätte weg wollen. Aber ich bin ein recht mutiger Mensch und habe vor fast nichts Angst. Und es war für uns ein zweiter Lebensanfang. Wir hatten Mut, und wir waren sicher, dass wir uns und unseren Familien helfen können.
Sie haben immer Geld nach Hause geschickt?
Michele: Wir haben uns fast nichts gegönnt, um so viel Geld wie möglich nach Italien überweisen zu können. Wir arbeiteten als Maurer und tranken zu zweit jeden Tag nur eine Flasche Bier – die Hälfte zum Mittag, die Hälfte am Abend. Aber wissen Sie: Bei uns in Italien war noch mehr Armut. Wir zum Beispiel durften nur bis zur achten Klasse in die Schule gehen, danach mussten wir arbeiten.