Die Frage, die man sich Ende des Jahres seit spätestens 2020 stellt, lautet: Kann das alles eigentlich noch schlimmer werden? Und obwohl die Antwort verlässlich ist wie eh und je, scheint es uns jedes Mal aufs Neue wieder zu überraschen. Ja. Ja, kann es. Aber mal ganz in Ruhe jetzt: Was ist eigentlich so passiert in Stuttgart in den letzten zwölf Monaten?
Stuttgart hat's gut, Stuttgart hat das Riesenrad
Viel. Immer passiert viel. Wäre meistens besser, es würde weniger viel passieren, aber in der Hand hat man es ja irgendwie auch nicht. Während wir also glücklich um das Nopper-Riesenrad herumtänzeln und uns gemeinhin fragen, dürfen wir natürlich nicht vergessen, dass dieses Jahr auch viele gute Dinge passiert sind.
Die EM zum Beispiel. Die war sehr gut für die UEFA. Eher schlecht für die Stadt und ihre Gastronom:innen natürlich, die abseits der Fanschneisen geparkt wurden und ihre horrenden Standmieten wohl selbst dann nicht eingespielt hätten, wenn Harald Glööckler perönlich bei ihnen einen Tisch gebucht hätte. Das hat er natürlich lieber auf dem Wasen gemacht, wo unser OB mit seinen zwei Schlägen beim Fassanstich bewiesen hat, dass er gar nicht unbedingt so scharf auf immer nur schlechte Presse ist (nach dem SWR-Interviewabbruch sah das ja irgendwie noch anders aus).
Schlange stehen als Volkssport
Außerdem konnten wir in diesem Jahr mal wieder bewundern, wie gern wir in dieser Stadt Schlange stehen. Die Personenaufläufe vor den Bürgerbüros und insbesondere der Ausländerbehörde waren teilweise so kolossal, dass man fast schon an Performance-Art dachte. Lokstoff im öffentlichen Raum führt eine Dystopie zum Thema Stuttgarter Ämter auf. Ach nee, sind gar keine Schauspieler:innen. Upsi.
Schlange stehen ist aber eh Volkssport in Stuttgart. Die Stadt hat nämlich auch 2024 formvollendet bewiesen, dass sie keine Ahnung von Food-Hypes hat und einfach jeden Scheiß mitmacht, den auf TikTok jemand gut findet. Anstatt das Image von fleißigen Schwäbinnen und Schwaben zu pflegen, stehen sich die feinen Menschen in dieser Stadt neuerdings nicht nur für Zimtschnecken die Beine in den Bauch, sondern auch für Cookies. Cookies!
Dagegen wirkt die Dubai Schokolade fast schon sophisticated. Also fast, wenn es nicht auch nur maximal süße Diabetes.Pampe wäre, die jedes Baklava alt aussehen lässt. So manchen Stuttgarter:innen könnte man vermutlich auch eine Butterbrezel als Creamy Artisan Pretzel für 7,90 Euro verkaufen.
Juhu, endlich Außenbereich!
Heißt aber auch: Stuttgart geht’s nicht schlecht, wenn für so einen Unfug Geld da ist. Wie die Wirtschaftswoche belegt, rangiert unser Städtle aktuell auf Platz zwei der wirtschaftlich stärksten Städte in Deutschland. Hinter München. Aber die haben ja auch das bessere Bier, ähäm.
Mega ist natürlich auch, dass sich rechtzeitig zu Minustemperaturen viele Wirt:innen der Stadt über diese gewisse Außenbereichsgenehmigung freuen dürfen, die sie vor drei Jahren beantragt haben. Also, falls sie in der Zwischenzeit nicht längst Konkurs anmelden mussten.
Ist aber nicht alles schrecklich in Stuttgart. Die "zwischen/miete" hat zum Beispiel ihren zehnten Geburtstag gefeiert. Die organisiert Lesungen in WGs und bringt junge Literatur dorthin, wo sie hingehört: zu den Menschen. Glückwunsch! Gelesen wird in Stuttgart eh viel: Es gibt tatsächlich neue Buchclubs, außerdem hat sich "Silent Reading" so langsam durchgesetzt: Man trifft sich, um gemeinsam zu lesen und den Mund zu halten. Besser wird’s nicht.
Nur 160 Frauen in Not
Noch mal zurück zur EM. Ziemlich cool war natürlich, dass man Stuttgarts geliebten Feschdle-Kalender (nach dem Abfallkalender der AWS der wichtigste in Stuttgart, wie man weiß) einfach mal so durcheinandergewirbelt hat, um der UEFA die Stadt zu überlassen und gähnende Leere in den Fanzones zu genießen. Der Fischmarkt hat durch die Verlegung so viel Regen abbekommen wie wahrscheinlich nicht mal im Hamburg. Naja, authentisch, nech? Immerhin gab es endlich mal genügend öffentliche Toiletten in der Stadt. Auch wenn sie sich teilweise wie Pipi... äh, Personenschützer:innen um unsere historischen Schlossplatz-Brunnen drängten. Was sagt das eigentlich über Fußballfans?
Ein Grund zum Feiern ist natürlich auch, dass es beim Cannstatter Wasen weniger Straftaten gab als sonst. „Nur“ 160 junge Frauen wandten sich während des Fests an das ehrenamtliche Hilfspersonal. Ein Viertel der Frauen, weil sie konkret sexuell belästigt wurden, der Verdacht auf K.O.-Tropfen bestand oder sie stark alkoholisiert waren. Hurra!
Menschen, die einen guten Abend nicht mit einer an Selbstaufgabe grenzenden Konsum von schalem Bier gleichsetzen, strömten in diesem Jahr lieber zur About Pop. Das Hybrid aus Showcase-Festival und Konferenz war erstmals zweitägig in der ganzen Stadt verteilt und ein Triumph der diversen Popkultur über das Einheitsbrei-Booking der großen Hallen.
Außerdem: Am Feuersee sitzen war auch 2024 beschde, es sind außerdem deutlich weniger Roller im Wasser gelandet als in den Vorjahren und der Superblock im Westen hat mal wieder gezeigt, wie wenig nötig ist, um Menschen auf die Palme zu bringen. Und der Fernsehturm ist immer noch der erste der Welt. Yay.
Why, Stuttgart?
Unwort, oder eher Unsatz, des Jahres ist in Stuttgart 2024 ganz klar „anonyme Beschwerden lokaler Gewerbetreibender“. Er trifft unter anderem die Freitreppe vor dem Stadtpalais und die Rakete-Bar im Theater Rampe, und das nachhaltig. Da haben wir ja mal wieder bundesweit allen gezeigt, wie supercool, kollegial und kommunikativ wir hier sind. "Anzeige ist raus": 2024 still trending in Stuttgart.