In den 50ern kamen kranke Menschen nach Plochingen, um sich von Bruno Gröning heilen zu lassen. Noch heute wächst seine Anhängerschar.

Esslingen/Plochingen - Wer an diesem Samstagnachmittag Heilung erfahren will, muss erst einmal Treppen steigen. Stufe um Stufe kämpft sich die alte Dame im Esslinger Scala nach oben, einen Stock in der linken Hand, den rechten Arm bei einer Helferin untergehakt. Trotz der Anstrengung lächelt sie. Offenbar ist sie davon überzeugt, dass die Mühen, sich in den ersten Stock des ehemaligen Filmtheaters zu quälen, nicht vergebens sein werden.

 

„Blinde, die wieder sehen können; Gehörlose, die wieder hören können; Lahme, die wieder gehen können“ – das steht nicht nur in der Bibel bei Matthäus 11,5. Dieser Satz wird auch später im Vortrag „Hilfe und Heilung auf dem geistigen Weg“ fallen, zu  dem der Bruno-Gröning-Freundeskreis eingeladen hat. Das Flugblatt, dass seit einigen Wochen in Esslinger Geschäften ausliegt, kündet: „Im Rahmen der internationalen Vortragsreihe informieren Ärzte, Psychologen und Heilpraktiker über Heilungen auf dem geistigen Wege durch die Lehre Bruno Grönings. Geheilte berichten, wie sie von seelischen, organischen sowie ärztlicherseits als unheilbar erklärten Krankheiten frei wurden.“

Rückblick: in den Gründerjahren der Bundesrepublik macht Bruno Gröning Schlagzeilen. Der Gelegenheitsarbeiter ist angeblich ein Wunderheiler. Er empfängt die Kraft Gottes, den sogenannten Heilstrom, wandelt ihn wie ein Transformator um und macht ihn damit für die Menschen nutzbar. Sein Kropf, fast melonengroß, ist für seine Anhänger das sichtbare Zeichen seiner Auserwählung.

Tausende belagern sein Haus

1949, Gröning ist 42 Jahre alt, heilt er angeblich einen an Muskelschwäche erkrankten Jungen im westfälischen Herford. Daraufhin belagern in kürzester Zeit Tausende Menschen, darunter viele Kriegsversehrte, täglich das Haus, in dem das Wunder geschehen sein soll. Die Zeitschriften sind – je nach Ausrichtung – voll von überschwänglichen oder höhnischen Artikeln über Gröning. Allerdings: durch einen Gerichtsbeschluss wird Gröning, zeit seines Lebens ohne ärztliche oder heilpraktische Ausbildung, untersagt, als Heiler aufzutreten. Außerdem wird wegen fahrlässiger Tötung gegen ihn ermittelt. Ein lungenkrankes Mädchen soll im Glauben an seine Heilkraft nicht zum Arzt gegangen sein und starb.

Mitte der 50er Jahre, zieht sich Gröning zurück – nach Plochingen. Ein Bekannter hat ihm dort ein Haus überlassen, in dem er bis zu seinem Tod im Januar 1959 zur Miete lebt. Es kommen weiterhin Menschen zu ihm, bestellen Fotos und die sogenannten Gröning-Kugeln, die Gröning aus dem Stanniolpapier seiner Zigarettenpackungen formte und mit seiner Kraft auflud. Massenveranstaltungen gibt es jedoch keine mehr.

In der Kleinstadt am Neckarknie weiß zu jener Zeit jeder, „dass da oben in den Wiesen das Gröning-Haus ist“. Siegfried Drieß, ein Ur-Plochinger, kommt als Halbwüchsiger oft daran vorbei. Auf jedem Weg Richtung Schurwald ist das frei stehende Haus im Dornendreher für Drieß und seine Freunde ein willkommenes Ziel, um einen Blick in den Garten des „geheimnisvollen Spinners“ zu werfen. „Über die Stanniolkügelchen, durch die laut seinen Anhängern der Heilstrom fließt, haben wir uns oft lustig gemacht“, erinnert sich der ehemalige CDU-Stadtrat und langjährige stellvertretender Bürgermeister Drieß.

Schneidet sich jemand in den Finger, bekommt er zu hören: „Pass auf. Sonst kann dir nur noch der Gröning helfen.“ Der Schüler Siegfried Drieß und seine Freunde sind im Grunde genommen froh, dass sie Gröning nie im Garten erspähen. „Er hatte so etwas Geisterhaftes an sich, mit seinem Kropf, der fast größer als der Kopf war.“ In Deutschland mag Bruno Gröning ein bekannter Mann gewesen sein. In Plochingen, so Drieß, war er nicht anerkannt.

Vor allem ältere Frauen glauben an Grönings Kräfte

Im Esslinger Scala warten knapp hundert Interessierte auf den Vortragsbeginn, zumeist Frauen jenseits der 50. Sie kommen aus Esslingen und Umgebung, manche auch aus Göppingen, Reutlingen und Freudenstadt. Sie sind adrett gekleidet und haben freundliche Gesichter aufgesetzt. Man geht sehr zuvorkommend miteinander um. Ebenfalls im Saal: eine vierköpfige Familie mit zwei Mädchen im Teenageralter und ein Paar um die 40, das man an einem Samstagnachmittag eher auf dem Tennisplatz vermutet hätte – sie mit modischen Lederstiefeln, dezent geschminkt, dezent blondiert, er in Jeans und Sakko, die Designerbrille ist aus Horn.

Geleitet wird die Veranstaltung von Ursula Ernst, einer resoluten, aber herzlich wirkenden Frau aus der Reutlinger Gegend. Nach einer persönlich schwierigen Zeit hat Ursula Ernst vor zwölf Jahren über eine Bekannte zum Bruno-Gröning-Freundeskreis gefunden. Ähnlich lange ist ihr Nachbar auf dem Podium dabei. Franz Ohlendorf stellt sich als promovierter Kinder- und Jugendarzt im Ruhestand vor. Er ist nicht nur im Bruno-Gröning-Freundeskreis engagiert, sondern auch Mitglied der Medizinisch-Wissenschaftlichen Fachgruppe, einem Zusammenschluss aus Ärzten, Heilpraktikern und Psychologen. Sie geben vor, die Wunderheilungen Grönings wissenschaftlich zu untersuchen.

Ihn habe die heilende Kraft Bruno Grönings von diversen Lebensmittelunverträglichkeiten befreit, schildert Ohlendorf. Später erklärt der Arzt, dass ihm Grönings Lehre zusätzliche Patienten beschert habe. Nicht, weil er kranke Kinder nach Methoden des Wunderheilers behandelt habe, versichert er: „Nein, nein. Es war für mich selbst wichtig. Wenn ich mehr Kraft habe, kann ich mich mehr Patienten widmen.“

Die Tochter von Grönings Privatsekretär berichtet

Ortswechsel. Brigitte Hermann sitzt in ihrem Plochinger Wohnzimmer, nicht weit entfernt vom Haus Grönings, in dem sie im Jahr 1958 oft zu Gast war. Sie sei „gerne bereit, mit der Presse zu reden“, aber nur, wenn ihr richtiger Name nicht in der Zeitung steht. Man werde eben schnell in die Spinnerecke abgeschoben, wenn man sich öffentlich zu Gröning bekenne. Einige Kugeln mit dem Stanniolpapier bewahrt Brigitte Hermann in einem Säckchen aus Samt auf, eine Kugel hat sie herausgenommen und wiegt sie nachdenklich in der Hand. „Ich habe den Heilstrom nie gespürt“, sagt sie. „Vielleicht war ich blockiert, konnte die Kraft nicht richtig empfangen.“

Ihr Vater war von 1958 bis 1959 Bruno Grönings Privatsekretär. Und sie, damals 15 Jahre alt, hatte der Wunderheiler als weitere Schreibkraft eingestellt, um die vielen Heilungsberichte aus den Vorjahren abzutippen. Oft hat Brigitte Hermann gesehen, wie Gröning abends im Wohnzimmer saß, die Kugeln formte und auflud, in dem er sie lange in der Hand hielt und mit konzentrierter Miene drückte.

1958 sollte das letzte Lebensjahr Grönings werden. Auch wenn er nie über Schmerzen klagte, so war in seinem Umfeld doch jedem klar, dass er ein kranker Mann war. Oft erlebte Brigitte Hermann ihn niedergeschlagen. Und dennoch ist ihr auch heute noch, mit 70 Jahren, die Begeisterung für diesen Mann anzumerken. „Er war einer der wunderbarsten Menschen, die ich kennengelernt habe. Ich weiß genau, wie er mir bei unserem ersten Treffen in die Augen schaute.“ Brigitte Hermann ist überzeugt, dass Gröning ihren Vater nicht aus Notwendigkeit, sondern aus Nettigkeit eingestellt habe. „Wir waren neu in Plochingen, er hat es uns ermöglicht, hier Fuß zu fassen.“ Bis heute sei sie Gröning dankbar.

Auf der ganzen Welt entstehen Freundeskreise

„Der Heilstrom hat nichts mit Mystik oder Okkultismus zu tun“, versichert Ursula Ernst auf dem Esslinger Podium. Der Bruno-Gröning-Freundeskreis sei keine neue Religion, die Lehre überkonfessionell anwendbar. Der Heilstrom aufzunehmen bedeute, eine kosmische Kraft aufzunehmen, die jedem zur Verfügung stehe. Kostenlos. „In China redet man vom Chi, in Indien vom Prana.“ Für die weniger religionsbewanderten unter den Zuhörern erklärt Ursula Ernst mit weicher Stimme: „Gröning hat den Heilstrom mit elektrischem Strom verglichen. Den kann man ja auch nicht sehen.“ Aber dessen Wirkung, die erkenne man schon: „Wenn man auf den Schalter drückt, geht das Licht an.“

Bruno Gröning sei der Transformator für den Strom – auch aus dem Jenseits. „Wenn ich sterbe und mein Körper in der Erde ist: Wenn man mich ruft, werde ich kommen und helfen“, das habe Gröning versprochen. Deswegen gehen im Esslinger Scala nun alle Seminarteilnehmer in eine aufrechte Sitzposition. „Die Beine nicht überkreuzen“ – denn das gibt Kurzschlüsse – „die Hände mit den Handflächen nach oben auf die Oberschenkel legen“, erklärt Ursula Ernst. Dann dringen Querflötentöne und schmachtende Celli aus Lautsprecherboxen. Eine Melodie, die sich nach viel Tüdelü zu einem fulminanten Finale mit Pauken und Beckenschlägen steigert.

„Und: Haben Sie den Heilstrom gespürt?“ fragt Ursula Ernst am Ende ins Publikum. Erst werden nur zaghaft ein paar Hände gehoben, dann mehr. „Ja, wie ein Kribbeln“, bestätigt eine junge Frau. Einem Mann sei gar richtig heiß geworden. „Ich koche wie ein Vulkan.“ Man ist überzeugt: Suggestion kann das nicht gewesen sein.

Für die Kirche ist Grönings Faszination rätselhaft

Mitte der 1980er Jahre wird in Stuttgart ein Bruno-Gröning-Freundeskreis gegründet. Später kommt einer in Fellbach hinzu, dann einer in Plochingen, in Nürtingen, in Kirchheim, in Esslingen, in Leinfelden-Echterdingen, in Sindelfingen, in Leonberg. Deutschlandweit suchen immer mehr Menschen ihr Heil in den Lehren Grönings. Wie viele es in Baden-Württemberg sind, vermag Hansjörg Hemminger, Beauftragter der Evangelischen Landeskirche für Weltanschauungsfragen, nicht zu schätzen. Fest steht: es werden immer mehr.

Warum Grönings Anhängerschaft jetzt, mehr als 50 Jahre nach seinem Tod, steigt, sei schwer zu erklären, sagt Hemminger. Denn eine echte Lehre habe Gröning mangels intellektueller Fähigkeiten nicht hinterlassen – außer Sätzen wie „Gott ist der beste Mediziner“ und „Unmöglich gibt es nicht“. Manchen gehe es nicht dezidiert um Gröning. „Sie sind gegenüber anderen Wunderheilern genauso offen.“

Auch wenn das Programm Grönings vor allem auf Menschen ausgerichtet scheint, die an chronischen und schwer bestimmbaren Krankheiten leiden – die Mehrheit der Mitglieder komme nicht wegen einer Krankheit zum Freundeskreis. Der Heilstrom und die Fähigkeit, ihn zu empfangen – das ist laut Hemminger das Entscheidende des Kultes. Diese Besonderheit mache Gröning nicht nur für Esoterikanhänger interessant. „Sie treffen auf den Veranstaltungen auf ein durchweg gutbürgerliches Publikum. Oft Frauen ab 40, die zeigen wollen, dass sie sich nicht nur um Beruf und Familie kümmern können, sondern auch in der Lage sind, den Heilstrom aufzunehmen: „Dies überhöht die eigene Rolle.“

Ein Gymnasiallehrer spürt den Heilstrom

Hansjörg Hemminger sieht die Gröning-Bewegung als nur „bedingt gefährlich“ an. Sie richte sich nicht gegen den Staat oder die Gesellschaft, noch verpflichte sie ihre Mitglieder im großen Maße zu Abgaben. Allerdings: „Die Freundeskreise sind klar missionarisch tätig, einzelne Mitglieder können sehr fanatisch sein.“

Helge Buchecker leitet seit Kurzem einen Freundeskreis in der Region Stuttgart. „Je mehr Menschen zusammenkommen, desto besser“, sagt er, die Masse verstärke die Wirkung des Heilstroms. Deswegen ruft der ehemalige Gymnasiallehrer Buchecker jeden Morgen um 9 Uhr einen Bekannten aus dem Freundeskreis an. „Um diese Uhrzeit klinken sich die meisten ein“, erzählt er. Den Hörer klemmt er sich dann unter ein Stirnband und lässt für eine halbe Stunde den Heilstrom durch seinen Körper fluten. Klar, sagt er, für Außenstehende höre sich das komisch an, „aber machen Sie das doch mal einen Monat lang“.

Gröning verglich sich mit Jesus

Er habe es zunächst auch nicht geglaubt und nun spüre er ihn, den Strom. Die Rückenschmerzen beim Autofahren – weg sind sie seitdem. Und Yoga sei eben nicht das Gleiche. „Bruno ist wie eine Adresse“, sagt Buchecker. Als er einmal gefallen ist und vor Schmerzen nicht mehr weiterkonnte, da hat er laut „Bruno“ gerufen. Und auf einmal sei es wieder gegangen.

Das Haus am Stumpenhof, das Plochinger Gasthaus Waldhorn, wohin Gröning zu Veranstaltungen lud: manche könnten seine heilende, göttliche Kraft dort immer noch spüren. „Journalisten wie Sie glauben nicht, das so etwas möglich ist, Sie wollen uns lächerlich machen“, meint Buchecker. „Bruno hat nicht umsonst gesagt: Wenn die Menschen auf Jesus gehört hätten, hätte ich nicht mehr kommen müssen.“