„Dark Tourists“ sind auf der Suche nach den schaurigsten Orten der Städte, die sie besuchen. Was ist das für ein Trend?
Spuk und Grusel sind im Trend: Auch in Stuttgart begeistern verschiedene Geistertouren interessierte Besucher. Anette Ladovic kennt sich mit den alten Stuttgarter Sagen und Legenden so gut aus wie kaum jemand anders. Nachdem sie im Englandurlaub an einer Geistertour teilgenommen hatte, ließ das Erlebnis sie nicht mehr los.
So was könnte man doch auch bei uns machen, dachte sich die Stuttgarterin. Nach einiger Recherche fanden sich genug schaurige Orte, an denen sich die dunklere Vergangenheit der Kesselstadt erzählen lässt. „Dabei finde ich besonders die Mischung aus geschichtlichen Fakten, Legenden und Sagen sehr faszinierend“, sagt sie. Und das sehen wohl auch die Teilnehmer ihrer Tour so. „Das Interesse an unseren Führungen nimmt immer mehr zu.“
Dass alles Dramatische, alles Tragische, alles Grauenhafte fasziniert, ist nicht neu: Gladiatorenkämpfe, Stierkämpfe und öffentliche Hinrichtungen haben Menschen bereits vor vielen tausenden Jahren angezogen. Doch auch heute zeigen etwa Gaffer bei Unfällen oder Fans von Krimis und True Crime, dass Menschen noch immer an erschütternden Schicksalen anderer interessiert sind.
Dark Tourism, ein Trend in den sozialen Netzwerken
Eine Spielart dieser morbiden Neugier ist der sogenannte „Dark Tourism“, ein Trend, der sich in den sozialen Netzwerken verbreitet, und den es auch in Stuttgart gibt.
Statt eines gemütlichen Bummels durch die Altstadt, dem Besichtigen imposanter Bauwerke oder Museen, stehen unter anderem Tatorte tatsächlicher Verbrechen, KZ-Gedenkstätten und Friedhöfe auf dem Programm. Solche Orte gibt es auch in Stuttgart.
Zwischenstopp auf dem Weg in Konzentrationslager
Nicht immer geht es aber um ein bizarres Interesse. Auf der Plattform Reddit etwa fragt ein Lehrer nach Empfehlungen für „Dark Tourism“-Orte in der Kesselstadt, die er mit seinen Schülern besuchen kann. „Wir behandeln das Thema im Unterricht und wollen uns in diesem Zusammenhang einige solcher Ort ansehen“, schreibt er.
Vorschläge gibt es prompt einige. „Der Killesbergpark war früher Teil eines Konzentrationslagers“, meint ein Nutzer. 1939 für die Reichsgartenschau erbaut, wurde er von 1941 bis 1942 als Zwischenstation jüdischer Bürger aus Württemberg und Hohenzollern für die gewaltsamen Deportationen durch die NS-Behörden in die Konzentrations- und Vernichtungslager genutzt. Ein steinernes Mahnmal erinnert an die mehr als 2600 getöteten jüdischen Mitbürger. „Am Nordbahnhof gibt es auch noch ein Holocaustdenkmal“, schlägt ein anderer Reddit-Nutzer vor.
Wilhelmsplatz hat eine blutige Vergangenheit
Auch der Wilhelmsplatz wird genannt, hier wurden bis ins 19. Jahrhundert noch Menschen öffentlich hingerichtet. Auf dem städtischen Richtplatz exekutierten die Scharfrichter zwischen 1581 und 1811 zum Tode verurteilte Menschen. Dieser Hauptstätte verdankt die Hauptstätter Straße ihren Namen. Die Straße war der Weg zur Enthauptungsstätte, die sich vor dem Hauptstätter Tor am heutigen Wilhelmsplatz befand. Zwar hat dieser seinen grausigen Zweck weitgehend verloren, einmal im Jahr findet hier jedoch das Henkersfest statt, mit dem an diese blutige Zeit erinnert wird.
Historische Friedhöfe sind beliebt
Auch zwei Friedhöfe werden als „Dark Tourism“-Reiseziele in Stuttgart genannt: der Waldfriedhof und der Hoppenlaufriedhof. Vor mehr als 100 Jahren wurde ersterer nach dem Vorbild des Münchner Waldfriedhofs errichtet und der erste Verstorbene, ein im Ersten Weltkrieg gefallener Soldat, beigesetzt.
Auf der 30 Hektar großen Fläche liegen heute 20.000 Gräber, auf den Grabsteinen finden sich auch prominente Namen wie Bauknecht, Bosch und Breuninger. Der Hoppenlaufriedhof wurde 1626 gegründet und könnte als ältester Friedhof Stuttgarts für die Touristen interessant sein.
In Stammheim haben die RAF-Prozesse stattgefunden
Ein weiteres Beispiel für Orte mit einer dunklen Vergangenheit ist auch die Justizvollzugsanstalt Stuttgart in Stammheim. Diese wurde in den 1970er Jahren im Rahmen der strafrechtlichen Verfolgung führender Mitglieder der Terrororganisation Rote Armee Fraktion (RAF) bekannt. Nach dem Suizid der Angeklagten Ulrike Meinhof starben dort in der sogenannten „Todesnacht von Stammheim“ noch drei weitere RAF-Mitglieder durch Suizid. Mittlerweile wurde der berühmt-berüchtigte siebte Stock renoviert.
Zu guter Letzt findet sich auch das Hotel Silber in Stuttgart auf der Liste der dunkelsten Orte in der Kesselstadt. Das Gebäude war in der NS-Zeit ein Hauptquartier der Geheimen Staatspolizei. Mehr als ein halbes Jahrhundert wurde es von der Polizei genutzt und war Zentrale der Gestapo für Württemberg und Hohenzollern. Heute ist es ein Ort des historisch-politischen Lernens und der Begegnung.
Wohin darf in einer KZ-Gedenkstätte die Würstchenbude?
Warum Menschen solche Ort aufsuchen und wie sie sich dort verhalten sollten, ist eine Frage, mit der sich unter anderem auch Peter Hörz beschäftigt. Seit Anfang der 1990er Jahre forscht er – aktuell an der Hochschule Esslingen – über die Entwicklungen im jüdischen Viertel von Krakau (Kazimierz). Dieses Viertel ist nach dem Ende des polnischen Sozialismus zu einer Anlaufstelle unterschiedlichster Touristen geworden.
„Diese Art von Tourismus gibt es nicht erst seit kurzem“, sagt er. Und er wirft einige Fragen auf, die sich nicht unbedingt einfach beantworten lassen. Zum Beispiel: „Wenn Schüler nach Auschwitz fahren, dann müssen sie irgendwann etwas essen und trinken. Wie weit muss nun die Würstchenbude vom Konzentrationslager entfernt sein?“, fragt Hörz.
„Und wer darf das entscheiden? Wem gehört ein Gedenkort, wer gedenkt dort überhaupt tatsächlich und warum?“ Denn die meisten Menschen, die solche Orte besuchen haben eigentlich kaum einen tatsächlichen Bezug zu ihnen. „Das ist oft ein symbolischer Akt“, meint Hörz. „Man will durch das Erinnern an die Vergangenheit ein Zeichen im hier und jetzt setzen.“
Faszination von Gewalt und Tod spielt bei den Menschen eine Rolle
Grundsätzlich könne man schließlich überall gedenken. „Es hat aber einen besonderen Reiz dies an dem Ort zu tun, wo tatsächlich etwas Schlimmes passiert ist.“ Dabei spiele auch eine gewisse Faszination von Gewalt, Grausamkeit und dem Tod eine Rolle, die der Mensch in gewissermaßen schon seit Anbeginn der Zeit aufweise. „Orte an denen etwas Schlimmes passiert ist, werden daher gerne als besonders besucht.“
Das empfindet auch Tourguide Anette Ladovic so: „Wenn ich daran denke, dass in dem Bereich um die Leonhardskirche bis hoch zur Jakobstraße früher mal ein Friedhof war und heute dort ein Kinderspielplatz und eine Tiefgarage sind, ist das schon irgendwie gruselig.“