Kampf gegen Armut Kinderschutzbund gibt Ampel eine Fünf – und greift Friedrich Merz an

Kinder beim Mittagessen in einer Berliner Sozialeinrichtung Foto: dpa/Christian Charisius

„Mangelhaft“: So lautet das Urteil von Kinderschutzbund-Präsidentin Sabine Andresen zur Frage, welche Note die Ampel im Kampf gegen Kinderarmut verdient hat. Doch sie sieht auch Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz kritisch – vor allem in einem Punkt.

Korrespondenten: Tobias Peter (pet)

Die Präsidentin des Kinderschutzbundes, Sabine Andresen, beklagt vertane Chancen in der auslaufenden Legislaturperiode und warnt, Ignoranz werde keine Probleme lösen.

 

Frau Andresen, welche Note geben Sie der Ampel in Sachen Kampf gegen Kinderarmut?

Leider ist das, was die Ampel im Kampf gegen Kinderarmut am Ende hinbekommen hat, mangelhaft. Das gilt erst recht, wenn man die Koalition daran misst, was sie sich selbst vorgenommen hat. Sie wollte eine Kindergrundsicherung einführen und hat es nicht geschafft. So gesehen müssten sich die Beteiligten in dieser Frage auch selbst die Note Fünf geben, wenn sie ehrlich mit sich selbst sind.

Ist das Scheitern der Kindergrundsicherung tatsächlich so schlimm? Armut lässt sich auch anders bekämpfen – und es gab Erhöhungen des Kindergeldes und auch des Kinderzuschlags.

Die Erhöhung des Kindergeldes hilft Kindern in Armut nicht, weil es auf Sozialleistungen angerechnet wird. Bei der Kindergrundsicherung geht es zentral um zwei sehr wichtige Dinge. Erstens ist das Ziel, Kinder nachhaltig und dauerhaft aus der Armut zu holen. Das bedeutet, die Kinder in armen Familien müssen eine stärkere Unterstützung bekommen als bislang. Zweitens ist die Idee, unterschiedliche Leistungen zu bündeln, sodass Familien sich die Unterstützung nicht mühevoll zusammensuchen müssen. Beides gemeinsam hätte eine grundlegende Wende bedeutet. Es ist sehr bedauerlich, dass es nicht dazu gekommen ist.

Sabine Andresen steht seit 2023 an der Spitze des Kinderschutzbunds. Foto: www.imago-images.de/Christian Ditsch

Vielen schien der Aufwand bei der Kindergrundsicherung zu groß. Zwischenzeitlich war die Rede davon, dass Tausende neue Stellen in der Verwaltung notwendig seien, um sie umzusetzen.

Als Kinderschutzbund wollen wir unbedingt, dass das Geld die Familien erreicht – und nicht vor allem für Verwaltung ausgegeben wird. Wenn eine Reform zu bürokratisch ist, muss man sie entbürokratisieren. Aber das darf doch nicht heißen, dass es die Reform am Ende gar nicht geben sollte. Erst recht, wenn es um den Kampf gegen Kinderarmut geht. Hier ist eine große Chance vertan worden.

Die politische Debatte dreht sich momentan stark um den Missbrauch von Sozialleistungen, gefordert werden oft härtere Sanktionen beim Bürgergeld. Was sagen Sie dazu?

Der politische Diskurs über das Bürgergeld, wie er auch von Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz vorangetrieben wird, ist einer, unter dem viele Kinder in armen Familien sehr leiden. Denn dieser Diskurs dreht sich immer um die wenigen Menschen, die Regeln verletzen. Er stigmatisiert sowohl die Erwachsenen als auch die Kinder. Und er missachtet vollkommen, dass es vielfach um Menschen geht, die arbeiten, aber trotzdem Bürgergeld brauchen. Kinder mit einer alleinerziehenden Mutter oder mit drei und mehr Geschwistern sind überdurchschnittlich oft von Armut betroffen. Das liegt an der Politik und nicht an den einzelnen Menschen.

Was fordern Sie also von Friedrich Merz und anderen in der Debatte?

Verantwortungsvolle Politiker sollten bedenken, dass sie durch pauschale Verurteilungen einen Keil in Familien treiben und Kinder und Eltern beschämen. Denn eines ist klar: Auch junge Kinder bekommen mit, wenn in der Politik vor allem Abwertungen die Debatte dominieren, Jugendliche sowieso.

Wären Sie für ein kostenloses Schulmittagessen für alle? Oder profitieren hier nicht auch diejenigen, die es gar nicht nötig haben?

Ein kostenloses Schulmittagessen für alle wäre sinnvoll, wenn es von guter Qualität ist. So würde die Gesellschaft sicherstellen, dass jedes Schulkind mittags eine gesunde Mahlzeit bekommt. Das gemeinsame Essen wäre darüber hinaus auch gemeinschaftsstiftend. Diese Forderung kann der Kinderschutzbund nur unterstützen – allerdings muss ich eine entscheidende Bedingung nennen. Eines darf nicht passieren: Dass ein gemeinsames Mittagessen dazu führt, dass man armen Familien die Mittel so zusammenstreicht, dass es für ein gesundes Frühstück und Abendbrot für die Kinder nicht reicht. Die ärmsten Familien brauchen mehr Unterstützung, nicht weniger.

Geld in den öffentlichen Haushalten ist nun mal nicht unendlich vorhanden.

Das bestreite ich nicht. Meiner Meinung nach braucht es eine ehrliche Debatte darüber, wer in dieser Gesellschaft mehr beitragen kann, damit Geld für Kinder da ist. Stichworte dazu sind beispielsweise die Vermögenssteuer und auch die Erbschaftssteuer. Gleichzeitig finde ich es richtig, Haushalte daraufhin zu durchforsten, wo unsinnig Geld ausgeben wird. Dieses Geld sollten wir nutzen, um es in eine bessere Förderung der Kinder, auch in der Bildung zu investieren. Das sollte nicht nur die Kinderschutzpräsidentin empfehlen, sondern auch jeder Ökonom oder Unternehmensberater, der rein von den Zahlen getrieben ist.

Wieso?

Die letzte Pisa-Studie hat erneut bewiesen: Wir leisten uns eine riesige Bildungsungerechtigkeit, bei der viele Kinder aus armen Familien schlechte Chancen haben – und das in Zeiten des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels. Das können wir uns nicht leisten. Es ist, vorsichtig formuliert, auch sehr unvernünftig. Also, wem kann man Verzicht zumuten, um soziale Herausforderungen zu bewältigen?

Der Ampel hatten sie im Kampf gegen Kinderarmut eine Fünf gegeben. Haben wir Sie vorhin richtig verstanden, dass Sie hier auch von der Union nicht überzeugt sind?

Ich will es einmal so sagen: Das Wort Kinderarmut kommt im Wahlprogramm von CDU und CSU nicht vor. Als ob durch Verschweigen ein drängendes Problem gelöst werden könnte.

Eine Professorin an der Spitze

Forschung
Sabine Andresen ist Kindheits- und Familienforscherin an der Goethe-Universität Frankfurt. Zu den Themen der Professorin gehören Kinderarmut, sexuelle Gewalt an Kindern und Generationengerechtigkeit.

Engagement
Seit dem Jahr 2023 ist Andresen Präsidentin des Kinderschutzbundes. Von 2016 bis 2021 war sie ehrenamtliche Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung.

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