Im Marbacher Literaturmuseum der Moderne gibt es bald eine Führung für Blinde – mit überraschenden Stationen. Die Generalprobe mit sechs blinden und sehbehinderten Menschen aus der Region ist gelungen, eine Anpassungen wird es aber wohl noch geben.
Routiniert tastet Ralf Müller über einen 3D-Druck der originalen Schrift Franz Kafkas. „Jemand musste Josef K. verleumdet haben“, spricht der Ludwigsburger den berühmten ersten Satz aus dem „Process“. „Denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens...“. Müller stockt, denn am Ende des Satzes hat Franz Kafka 1914 ein Wort gestrichen und durch ein neues ersetzt. Erst nach einigen Versuchen ertastet Müller die Verbesserung: Kafka tauschte das Wort „gefangen“ mit „verhaftet“. „Mit Blinden verbindet man direkt die Brailleschrift oder Punktschrift. Mir ist es aber wichtig, auch die Schreibschrift nachzuempfinden, vor allem von jemandem wie Franz Kafka“, sagt Müller.
Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach öffnet sich neuen Personengruppen, die es bisher schwer hatten, an Kultur teilzuhaben. Im Rahmen des Projekts „Literaturmuseum der Zukunft“ entwickeln die Museen auf der Schillerhöhe mit Förderung der Bundesregierung neue Zugänge für Senioren, Kinder, obdachlose sowie blinde und sehbehinderte Menschen. Sechs Mitglieder des Blinden- und Sehbehindertenverbands Württemberg (BSVW) haben am Montagnachmittag die spezielle Führung durch das Literaturmuseum der Moderne zum ersten Mal ausprobiert und waren begeistert – an einer Stelle gibt es aber noch Nachholbedarf.
Es musste viel experimentiert werden
Führungen für Blinde habe es auf der Schillerhöhe in der Vergangenheit schon vereinzelt gegeben, sagt Verena Staack, zuständig für Bildung und Vermittlung im Deutschen Literaturarchiv: „Jetzt kommt das aber fest in unser Programm.“ In den kommenden Wochen sollen Interessierte online Gruppenführungen oder Einzelführungen für Blinde buchen können.
Das Projekt sei eine Herausforderung gewesen, sagt Staack. Die meisten Exponate auf der Schillerhöhe sind Schriftstücke, mit denen blinde und sehbehinderte Menschen kaum fühl- oder hörbare Erfahrungen machen können. Das Team musste kreativ werden, habe sich etwas aus anderen Museen abgeguckt, den BSVW um Hilfe gebeten und viel herumexperimentiert, berichtet Staack. So habe man Kafkas Handschrift beispielsweise erst auf Pappe, Metall und Holz gedruckt, bis sich der 3D-Druck auf Kunststoff als beste Alternative herausgestellt hat.
Neben der Handschrift ertasten die blinden und sehbehinderten Menschen auf der Führung auch ein Modell der Anlage Schillerhöhe – um ein Gefühl für die unterschiedlichen Gebäude zu bekommen. Die Teilnehmer bekommen zudem eine der bekannten grünen Kisten in die Hände. In denen werden die Nachlasse der großen deutschen Schriftsteller aufbewahrt. Auch eine kleine Schillerbüste gibt es zu ertasten und zu kommentieren: „Der hatte aber einen großen Zinken“, sagt ein Teilnehmer und sorgt für Gelächter. An der letzten Station gibt es dann etwas auf die Ohren. Eine Originalaufnahme von Hilde Domin, wie sie ihr Gedicht „Nur eine Rose als Stütze“ in Marbach vorträgt.
Aber auch Beschreibungen spielen während der Führung eine große Rolle. Immer wieder erklären Verena Staack und ihre Kollegin Katharina J. Schneider die Details der Ausstellungsräume. Wände aus Sichtbeton und Türen aus Tropenholz, in der Mitte des Raumes fünf fahrbare Ausstelltische, darauf Originale der schwäbischen Schriftsteller Schiller, Hölderlin und Mörike. In den Ecken stehen Tageslichtprojektoren – „wie man sie noch aus der Schule kennt“ – die alte Fotos und Schriftstücke an die Wand projizieren. Die Beschreibungen seien elementar für so eine Führung, sagt Ralf Müller. Für andere sei ein Ausstellungsraum, dessen Aufteilung und Wirkung, offensichtlich. Er müsse sich diesen aber vorstellen können.
Der Ludwigsburger ist froh über den Ruck, der aktuell durch die Museumsszene geht. Die Angebote für Blinde würden zunehmen, „da bricht gerade richtig etwas auf“. Die Staatsgalerie Stuttgart habe bereits ein vorbildliches Programm für Blinde, auch die städtische Galerie in Bietigheim gehe voran. Die Entwicklung sei aber auch notwendig, „damit wir an Kultur und Bildung teilhaben können“, sagt der Bezirksgruppenleiter des BSVW.
Ein Blick in die Fachliteratur zeigt: Das Thema Barrierefreiheit ist in der Museums-Szene eines der wichtigsten der vergangenen Jahre. Es gibt unzählige wissenschaftliche Arbeiten, konkrete Projekte, Förderungen und Kooperationen – beispielsweise mit der Deutschen Bahn. An vielen Ecken fehle jedoch das Geld und Personal sowie die Aufmerksamkeit der Zivilbevölkerung, so die Botschaft.
Die neue Führung durch das Literaturmuseum der Moderne hat jedenfalls Aufmerksamkeit geweckt und kam gut an. Während die Beschreibung und das Tasten gut umgesetzt worden seien, gebe es aber noch Potenzial beim Hörerlebnis. Es könnte mehr Audio-Stationen geben, am besten mit Kopfhörern, um komplett in den Inhalt einzutauchen, spiegelt die Gruppe den Organisatoren wider. Auch eine Raumübersicht für Blinde wäre hilfreich. Staack und Schneider nehmen die Hinweise ernst, genau deswegen habe man die Gruppe von blinden und sehbehinderten Menschen zur Generalprobe eingeladen – um von ihnen zu lernen.