Zwei Gruppen aus dem Hallschlag und dem Stuttgarter Osten geraten aneinander. Am Ende bekommt einer vier Messerstiche ab, ein anderer sitzt wegen versuchten Mordes auf der Anklagebank. Und es gibt weitere Folgen.

Schüchtern wirkt er und sehr nervös, der schlanke junge Mann im weißen Hemd. Er hat auf dem Zeugenstuhl im Stuttgarter Landgericht Platz genommen, sein Rechtsanwalt als Unterstützung direkt neben ihm, was eher ungewöhnlich ist. Doch es handelt sich hier um einen 20-Jährigen, der Opfer eines Messerangriffs geworden ist, der immer noch massiv unter der Tat leidet – und der möglicherweise selbst einiges zu verlieren hat.

 

Auf der Anklagebank ein paar Meter weiter sitzt ein 23-jähriger Stuttgarter. Ihm wird unter anderem versuchter Mord vorgeworfen. Gemeinsam mit rund einem halben Dutzend Mittäter soll er Mitte September vergangenen Jahres den 20-Jährigen im Stuttgarter Osten abgepasst, vom Rad gestoßen, getreten, geschlagen und mit Pfefferspray besprüht haben. Und versucht haben, ihn mit vier Messerstichen zu töten.

Den Hintergrund bilden wohl Auseinandersetzungen zweier Gruppen aus dem Hallschlag einerseits und dem Stuttgarter Osten andererseits. Dabei geht es um ein Milieu junger Männer, die Dinge gerne selbst regeln, auch mit Gewalt. Drogen, gekränkte Ehre, Körperverletzungen. Daher schweigen im Prozess viele Beteiligte, auch der Angeklagte.

Der Überfall auf den 20-Jährigen, davon geht das Gericht aus, war ein Racheakt. Das Opfer steht selbst im Verdacht, kurz zuvor gemeinsam mit zwei Mittätern einen Jugendlichen aus der anderen Gruppe überfallen und krankenhausreif geschlagen zu haben. Das glaubte zumindest die Clique aus dem Hallschlag offenbar. Ein entsprechendes Ermittlungsverfahren ist eingestellt worden – weil selbst der damals betroffene Jugendliche schwieg.

Das Opfer könnte selbst auch Täter sein

Und so tut sich auch der 20-Jährige im Zeugenstand äußerst schwer mit manchen wesentlichen Fragen. Nein, er habe keinen der Angreifer erkennen können, sagt er. Zur möglichen Vorgeschichte verweigert er die Aussage. Dafür schildert er eindrücklich, wie die Gruppe ihn am Abend, als er von der Arbeit zurückkam, auf offener Straße vom E-Bike zog, seinen Kopf gegen parkende Autos schlug. Er habe dabei zwar stichartige Bewegungen gesehen, die Messerstiche aber erst nach dem Überfall bemerkt, als seine Kleidung blutgetränkt war. Lebensgefahr bestand offenbar nicht – laut Gutachten aber war der Angriff „potenziell lebensbedrohlich“.

Erheblich sind auch die Folgen der Attacke. Bis heute habe er Albträume, erzählt der junge Mann. „Wenn ich Gruppen von Männern sehe, fürchte ich, dass die mich suchen und umbringen wollen“, sagt er. Aus Stuttgart sei er inzwischen weggezogen, weil er Angst habe, in die Stadt zurückzukommen. Deshalb könne er nicht einmal mehr seine Familie besuchen, die noch hier lebe. „Ich gehe nicht mehr nach Stuttgart“, sagt er.

Nur ein Beteiligter redet

In diesem Punkt hat er eine Gemeinsamkeit mit einem der Angreifer – dem einzigen, der bisher umfänglich ausgesagt hat. Er hat ausgepackt, weil man ihn offenbar erst für den Messerstecher gehalten hatte. Der Mann hat den Angeklagten belastet. Es sei in der Gruppe nach der aus dem Ruder gelaufenen „Belehrung“ darüber gesprochen worden, der 23-Jährige habe das Messer verwendet. Direkt gesehen haben will aber auch der Ex-Kumpan die Tat nicht. Auch er hat die Stadt inzwischen verlassen, wird offenbar als Verräter tituliert – und hat zur alten Clique jeglichen Kontakt abgebrochen.

Die Polizei hat nach der Tat mit erheblichem Aufwand Profile in den sozialen Netzwerken überprüft und mit Funkzellen-Untersuchungen festgestellt, dass zumindest die Handys mehrerer Verdächtiger zur Tatzeit im entsprechenden Bereich im Stuttgarter Osten aktiv gewesen sind. Der Angeklagte soll außerdem bereits kurz nach dem Überfall auf Zeitungsseiten im Internet mit entsprechenden Schlagworten nach Berichten darüber gesucht haben. Auch teure Taschen, von denen Zeugen eine am Tatort gesehen haben wollen, sind in seinem Besitz gefunden worden.

Versuchter Totschlag oder versuchter Mord?

Ob all das angesichts des ausgedehnten Schweigens vieler Beteiligter reichen wird für eine Verurteilung? Die Richterin gibt am Ende der Beweisaufnahme schon einmal einen rechtlichen Hinweis. „Wir können wahrscheinlich kein Mordmerkmal feststellen“, sagt sie. Deshalb komme auch eine Verurteilung wegen versuchten Totschlags infrage. Die Plädoyers und das Urteil sollen in der nächsten Woche folgen.