Beschäftigte treten bei Mercedes-Benz in Sindelfingen in den Ausstand. Dabei zeigt sich: Der Gesamtbetriebsratschef Ergun Lümali hat für Unternehmen und Standort Vorstellungen, die weit über sieben Prozent mehr Lohn hinausgehen.

Automobilwirtschaft/Maschinenbau : Klaus Köster (kö)

Schon wenige Minuten nach Beginn der Großkundgebung der IG Metall vor dem Werk Sindelfingen ist nicht mehr zu spüren, dass Tausende Beschäftigte sich bei Temperaturen von fünf Grad die Beine in den Bauch stehen. „Ob Lebensmittel oder Autos – alles wird teurer. Und wir sollen uns mit dem mickrigen Angebot der Arbeitgeber zufriedengeben?“, fragt Mercedes-Betriebsratschef und IG-Metall-Funktionär Ergun Lümali unter dem Jubel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Und er zweifelt an, dass die Lohnforderung von sieben Prozent mitten in der Krise ein Problem ist.

 
Ergun Lümali (li.) und Bundeskanzler Olaf Scholz 2.v.re.): Zusammen mit Vorstandschef Ola Källenius (2.v.li.) und Produktionschef Markus Schäfer zeigte Lümali vor kurzem die Top-Mercedes-Produkte. Foto: Stefanie Schlecht

Schließlich habe man den Arbeitgebern erklärt, ihr Angebot anzunehmen, dessen Wert die Gewerkschaft auf gerade mal 1,6 Prozent beziffert. Unter einigen Voraussetzungen: „Könnt ihr uns garantieren, dass dann niemand betriebsbedingt gekündigt wird? Dass alle Investitionen in Deutschland getätigt werden? Dass die Transformation nicht auf dem Rücken der Beschäftigten stattfindet? Dass die Autoindustrie in Deutschland aufblühen wird?“ Zu alledem hätten die Arbeitgeber „kein Wort gesagt“.

Wenn tatsächlich von dieser Tarifrunde alles abhänge, wie sie behaupteten, hätten sie „sofort zusagen müssen“, sagt Lümali. „Sind die Arbeitgeber ehrlich? Nein.“ Die Menge jubelt.

Die Beschimpfung der Arbeitgeber gehört zum Pflichtprogramm einer solchen Kundgebung. Trotz – oder wegen – der hohen Erwartungen der Mitglieder schafft Lümali es aber auch, nachdenkliche Töne einzubringen. Unweit der Kundgebung liegt die Halle 56, ein Symbol der Krise. Dort stellt Mercedes die weltweit teuersten Luxusautos wie die S-Klasse und das vollelektrische Flaggschiff EQS her – und diese Halle läuft schon seit Wochen nur noch in Einschichtbetrieb, steht also 16 Stunden am Tag still. Darüber sei man schon sehr besorgt, räumt Lümali ein – schließlich seien gerade diese Fahrzeuge der „Geldbringer“ für das Unternehmen. Für die Produkte aber stehe der Vorstand in der Verantwortung, ruft Lümali der Masse zu. „Wer gute und wettbewerbsfähige Auto baut, muss sich keine Sorgen machen. Macht eure Arbeit richtig“, ruft er den Vorständen zu.

Sorge um deutsche Mercedes-Standorte

Wie groß die Sorgen ungeachtet der lautstark vorgetragenen Kritik sind, zeigt sich auch an einer anderen Aussage, die gar nicht unmittelbar mit den Tarifverhandlungen zu tun hat: der Forderung nach einer Verlängerung der „Zusi“, des Vertrags zur Zukunftssicherung bei Mercedes, der betriebsbedingte Kündigungen in Deutschland bisher bis 2030 ausschließt. „Wir wollen eine Verlängerung der Zusi erreichen und betriebsbedingte Kündigungen bis 2035 ausschließen“, sagt Lümali. Neue Technologien und Produkte dürften nicht ins Ausland verlagert werden, sondern müssten an ihren deutschen Standorten bleiben.

Die Sorge vor baldigen Entscheidungen des Konzerns zu weitreichenden Verlagerungen von Produktion an ausländische Standorte ist groß – auch beim Betriebsrat. Bereits vor einigen Monaten hatte der Untertürkheimer Betriebschef Michael Häberle unserer Zeitung erklärt, in den nächsten ein bis zwei Jahren würden Weichen für Investitionen und Standorte künftiger Produktionen gestellt. „Deshalb brauchen diejenigen, die darüber entscheiden, wo in Zukunft Investitionen, Produktion und Arbeitsplätze angesiedelt werden, schon sehr bald klare Leitplanken.“ Ansonsten könne „jemand auf die schlechte Idee kommen, dass man diese Investitionen zulasten der deutschen Standorte überall auf der Welt vornehmen kann“.

Emotionen bei Mercedes sollen sich nicht überschlagen

Nach einer knappen Stunde ist die Kundgebung vorbei, Lümali schlägt vor, im Betrieb noch eine Stunde zu diskutieren und dann wieder zur Arbeit zu gehen. „Ist das okay?“ In der Menge gibt es allgemeine Zustimmung – und bei den Arbeitnehmervertretern das deutliche Bemühen, die Belegschaft einerseits zu mobilisieren und andererseits weder die Erwartungen noch die Emotionen überschießen zu lassen in diesen schwierigen Zeiten.