Wie gespalten ist das Land? „Verlustängste gibt es auch im wohlhabenden Schwabenland“

Katja Schmidt ist im Raum Stuttgart aufgewachsen und forscht in Berlin zu Ressentiments und Verlustängsten. Foto: privat

Die Europawahl hat den Parteien rechts der Mitte starke Zuwächse beschert. Die Soziologin Katja Schmidt spricht darüber, was das mit einer „symbolischen Abwertung“ des Verbrenners zu tun haben könnte und was sie bei allen Parteien vermisst.

Psychologie/Partnerschaft: Florian Gann (fga)

Die AfD hat bei der Europawahl am 9. Juni die größten Gewinne eingefahren: Bundesweit kam die Partei auf Platz 2, man konnte das Ergebnis um 4,9 Punkte auf 15,9 Prozent steigern – keine andere Partei hatte solche Zuwächse. Auch in Baden-Württemberg holte die AfD bei der Europawahl die zweitmeisten Stimmen, in den fünf Bundesländern im Osten kam man jeweils auf Werte um die 30 Prozent. Häufig wird in dem Zusammenhang von einer Spaltung der Gesellschaft gesprochen. Aber die in Stuttgart aufgewachsene Soziologin Katja Schmidt von der Humboldt-Universität zu Berlin sagt: So gespalten ist unsere Gesellschaft gar nicht. Und sie erklärt, warum trotzdem manche im Schwabenland gekränkt sind, wenn der Verbrenner als „Klimakiller“ bezeichnet wird.

 

Frau Schmidt, der rechte Rand ist bei der vergangenen Europawahl wesentlich stärker geworden. Hat die Mitte im demokratischen Prozess kein Gewicht mehr?

Die Mitte der Gesellschaft spielt im demokratischen Prozess eine wichtige Rolle – an der Wahlurne, mit Demonstrationen gegen Rechtsextremismus, mit ehrenamtlichem Engagement. Aber Sie spielen vermutlich auf die Rolle der „Mitte“ im öffentlichen Diskurs an. Der wird oft hitzig geführt und vor allem die extremen Meinungen bekommen Aufmerksamkeit. Dadurch kommt es vielen Menschen so vor, als wäre die Gesellschaft stark polarisiert und es gäbe keine „mittigen“ Meinungen mehr. Empirisch ist das allerdings nicht nachzuweisen – bei vielen großen Fragen besteht eigentlich Konsens.

Welche großen Fragen sind das?

Das haben sich meine Kollegen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser in ihrem Buch „Triggerpunkte“ angeschaut, sie haben das in vier sogenannte Ungleichheitsarenen eingeteilt: Einkommen und Vermögen, Identität, Migration, Klima. Bis zu einem gewissen Grad herrscht bei diesen Punkten ein Konsens in unserer Gesellschaft: Die Menschen sind im Großen und Ganzen für Umverteilung, sie sind dafür, etwa andere Lebensentwürfe anzuerkennen, sie stellen Migration nicht grundsätzlich in Frage und sind für Klimaschutz. Es gibt aber innerhalb dieser Themen einzelne Triggerpunkte, bei denen den Leuten dann die Hutschnur platzt.

Was sind solche Triggerpunkte?

Der Begriff entlehnt sich der Medizin und bezeichnet Stellen am Körper, die muskulär verhärtet sind und bei Berührung Schmerzen auslösen. In gesellschaftlichen Debatten werden solche „Schmerzpunkte“ beispielsweise bei Themen berührt, die gewisse Gerechtigkeitsempfindungen angehen oder das Verständnis davon, was als normal betrachtet wird oder einen Eingriff in Handlungsroutinen mit sich bringt. Themen, bei denen gesagt wird, „da gehe ich jetzt nicht mehr mit“. Beispielsweise rassistische Diskriminierung, Tempolimit oder Gendern. Solche Themen, die mit starken Emotionen besetzt sind, werden bewusst eingesetzt, um politisches Kapital daraus zu schlagen. Und zwar von sogenannten Polarisierungsunternehmern – also überwiegend von populistischen Parteien, aber nicht nur. Medien wirken dabei oftmals mit, indem sie die Botschaften weiterverbreiten und auf Clickbait hoffen.

Aber stecken hinter solch polarisierenden Themen nicht auch tatsächliche Ängste, etwa vor Verlusten und einer schnellen Transformation?

Verlustangst erklärt sicher zu einem Teil, warum sich ein Großteil der Wahlberechtigten bei den Europawahlen für das konservative und rechtspopulistische bis rechtsextreme Lager entschieden hat. Rechtspopulistische Parteien schüren ganz gezielt Verlustängste und spielen Gruppen gegeneinander aus. Konservative Parteien schreiben sich traditionell Kontinuität, Sicherheit und den Erhalt von Wohlstand auf die Fahnen und versuchen damit, Verlustängsten zu begegnen. Wir kennen die Vergangenheit, häufig verklären wir sie. Die Zukunft ist dagegen ungewiss und birgt stets auch die Möglichkeit von Verlusten. Insbesondere in Zeiten, in denen es an positiven Zukunftsvisionen fehlt, verfängt sich das Narrativ des Bewahrens oder gar der Rückkehr in die Vergangenheit bei vielen Wählerinnen und Wählern. Hinzu kommt, dass die Ampel-Regierung die Menschen offenbar emotional nicht für eine Transformation gewinnen konnte und keine überzeugende Antwort hatte auf die Frage: Was kann hier eigentlich gewonnen werden? Dafür wurden sie in der Europawahl abgestraft.

Es braucht also eine positive Erzählung davon, wie die Zukunft aussehen könnte, um Menschen ihre Ängste zu nehmen?

Ja. Was in der Wahrnehmung vieler Menschen gerade stattfindet ist, alles wird schlimmer, alles geht den Bach runter, der Wirtschaftsstandort verliert, Kriege, Krisen, Pandemien, Klimawandel – das sind ja niederschmetternde Visionen von der Zukunft. Es braucht eine Zukunftsvision, die bevorstehende Herausforderungen nicht leugnet und zugleich Lust auf das Morgen macht.

Geht es den Menschen bei den Ängsten um gefühlte Verluste oder um tatsächliche materielle Sorgen?

Angst ist eine sogenannte Basisemotion und damit Wesensmerkmal unserer menschlichen Existenz. Verlustangst steckt daher in allen gesellschaftlichen Schichten. Dabei ist es unerheblich, ob die Angst in einer absoluten Not begründet liegt oder in der gefühlten Benachteiligung im Vergleich zu anderen Menschen oder im Vergleich zu einer anderen Zeit.

Verlustängste lassen sich daher etwa auch im Schwabenland finden, wo die Löhne, die Vermögenswerte und auch der Lebensstandard vergleichsweise hoch sind. Allen voran die Autoindustrie hat der Region jahrzehntelangen Wohlstand beschert. Mit Debatten um das „Verbrenner-Aus“ und der starken internationalen Konkurrenz geht die – egal ob begründete oder unbegründete – Sorge einher, diesen Wohlstand zu verlieren. Und sie bedeuten eine symbolische Abwertung. Das hat auch mit Anerkennung zu tun. Viele Schwaben sind stolz auf ihren Motor der deutschen Wirtschaft. Wenn er jetzt als „Klimakiller“ betitelt wird, kann das als Kränkung aufgefasst werden und Ressentiments schüren. Anstatt diesen Sorgen jedoch mit einer klugen Politik zu begegnen, werden Ressentiments von manchen politischen Kräften noch gezielt befeuert.

Gibt es solche Verlustängste auch in anderen Milieus?

Die Erfolge der AfD gehen auch mit Verlustängsten innerhalb der eher progressiv eingestellten Bevölkerung einher. Für viele Gruppen war die Vergangenheit eben überhaupt nicht schön. So besteht die Sorge, dass mit dem Rechtsruck lang erkämpfte Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter, im Kampf gegen Diskriminierung, bei der Anerkennung von diversen Lebensstilen und nichttraditionellen Familienmodellen rückabgewickelt werden könnten. Nicht zuletzt sind aber natürlich auch viele migrantisch gelesene Personen durch den Zugewinn rechter Parteien von Verlustängsten betroffen, nämlich Verlust von Wertschätzung, die ihnen entgegengebracht wird, von Anerkennung, aber auch schlicht vor einem Verlust an Sicherheit.

Die Gesellschaftsforscherin

Werdegang
Katja Schmidt ist in Stuttgart aufgewachsen und hat in Düsseldorf und Berlin Sozialwissenschaften und Soziologie studiert. Für ihre Doktorarbeit forschte sie dazu, inwiefern die Einstellungen gegenüber Geflüchteten nach deren Zuwanderung in den Jahren 2015 und 2016 geändert hat.

Forschung
Aktuell ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Dort forscht sie unter der Leitung von Steffen Mau, einem der renommiertesten deutschen Soziologen, unter anderem zu Ressentiments und Verlustängsten.

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