Durch die vorgezogene Bundestagswahl dürfen 400 000 Menschen in Deutschland nun doch nicht zum ersten Mal wählen gehen. Grace Agbor und Simon Hauser sind zwei von ihnen. Ein Gespräch über Wut, ein Höchstalter bei Wahlen und den TikTok-Erfolg der AfD.
Etwa 320 000 junge Menschen in Baden-Württemberg dürfen in wenigen Wochen erstmals ihre Stimme bei der Bundestagswahl abgeben. Das sind 55 000 Erstwählerinnen und Erstwähler weniger als es beim ursprünglich geplanten Wahltermin im Herbst gewesen wären, schätzt das Statistische Landesamt. Denn einige Jugendliche haben ihren 18. Geburtstag noch vor sich und erreichen somit erst nach der vorgezogenen Wahl im Februar ihre Volljährigkeit. Viele macht das wütend, so wie die Schüler Grace Agbor und Simon Hauser aus Leinfelden-Echterdingen.
Grace, Simon, lange dachtet ihr, dass ihr bei der kommenden Bundestagswahl auch eure Stimme abgeben dürft. Nach dem Bruch der Ampelregierung war dann klar, dass ihr weitere vier Jahre warten müsst. Was macht das mit euch?
Grace: Ich war mit meiner Klasse auf dem Weg ins Kino, als ich erfahren habe, dass die Ampelregierung zerbrochen ist. Mein erster Gedanke war „krass, was passiert denn jetzt?“. So ging es auch vielen meiner Mitschüler. Unsere Generation hat so etwas ja auch noch nicht erlebt. Ich war geschockt und bin es immer noch. Dass ich nicht wählen darf, finde ich schade. Ich habe mir sehr gewünscht, dass ich auch mal wählen darf.
Simon: Am Morgen, als das Ergebnis der US-Wahl bekannt wurde, haben mich viele Mitschüler in der Schule gefragt, ob ich glaube, dass die Ampelregierung zerbricht. Ich habe nein geantwortet, weil ich erwartet habe, dass die Koalition angesichts der weltpolitischen Lage ihre Verantwortung erkennt und geschlossen agiert. Ich halte es für falsch, dass die Ampel zerbrochen ist, aber in der Konsequenz für richtig, dass Scholz Lindner entlassen hat. Ich glaube, für die allgemeine Stimmung ist es gut, dass die Menschen nun eine Entscheidung treffen können, wie das Land weitergeführt werden soll. Trotzdem finde ich es sehr bitter, dass ich deshalb nicht wählen kann und viele andere auch nicht. In wenigen Monaten, teilweise Wochen, wären wir ja mündig gewesen. Es macht mich wütend.
„Wir müssen mit an den Tisch, wenn es um unsere Zukunft geht“
Aufgrund des demografischen Wandels sind junge Menschen bei Wahlen weniger vertreten als Ältere. Findet ihr es fair, dass 80-Jährige für ihre Interessen wählen dürfen, während ihr es nicht dürft, aber noch viel länger mit den Ergebnissen leben müsst?
Grace: Eher nicht. Es geht ja um unsere Zukunft. Zum Beispiel Bestimmungen zur Rente betreffen Ältere gar nicht mehr oder nicht mehr lange, uns hingegen schon.
Simon: Ich finde das auch nicht fair. Wir müssen mit an den Tisch, wenn es um unsere Zukunft geht und das passiert viel zu selten.
Das heißt, ihr seid für ein Wahlrecht ab 16 bei der Bundestagswahl, was ja auch ein Ziel der Ampelregierung war?
Simon: Ja, ich halte das für sinnvoll. Ich will das gar nicht gegeneinander ausspielen, aber wenn ich mir vorstelle, dass ein 80-Jähriger, der vielleicht noch leicht dement ist, seine Stimme abgeben darf und wir nicht, finde ich das nicht fair. Wir müssen noch länger mit den Konsequenzen leben, zum Beispiel in der Bildungs- und Rentenpolitik.
Grace: Ich bin mir bei der Frage nicht ganz sicher. Klar, für uns oder generell für Jugendliche, die sich für Politik interessieren und sich damit auseinandersetzen, wäre das eine gute Sache. Aber es gibt auch einen großen Teil, der sich gar nicht damit befasst und einfach irgendwas ankreuzen würde. Als Stimme würde das natürlich trotzdem zählen. Ich finde, man muss auf jeden Fall, bevor man das einführt, Jugendlichen bewusst machen, was das bedeutet und welche Macht, aber auch welche Verantwortung man damit hat.
Würdet ihr ein Höchstalter bei Wahlen befürworten?
Grace: Ja, würde ich generell schon. Allerdings bin ich mir mit dem konkreten Alter unsicher. Es kommt stark auf die Person und ihren gesundheitlichen Zustand an.
Simon: Ich halte es nicht für sinnvoll, den Leuten ab einem bestimmten Alter das Wahlrecht zu verwehren. Ich persönlich kann es mir nicht anmaßen, jemandem die Mündigkeit abzusprechen, was man ja in dem Moment tun würde.
„Wir haben Angst davor, was passiert, wenn die AfD an die Macht kommt“
Mit welchem Blick schaut ihr auf den aktuellen Bundestagswahlkampf?
Simon: Mit Blick auf die Umfragen macht es mir Angst, dass die AfD vermutlich die zweitstärkste Kraft im nächsten Bundestag wird. Das macht mir viele Sorgen. Ich bin der Meinung, dass die AfD eine Partei ist, die Menschenfeindlichkeit in ihrem Programm hat, die gegen Menschen hetzt, die nicht christlich sind, gegen Ausländer, gegen queere Menschen, nur um ein paar Beispiele zu nennen. Wir dürfen so eine Gesellschaft nicht zulassen. Wir müssen multikulturell bleiben und jede Form der Liebe und des Zusammenlebens akzeptieren. Das ist doch das Schöne an Deutschland. Aber das sehe ich durch die AfD bedroht.
Grace: So viele aus unserer Generation haben Angst, was passiert, wenn die AfD an die Macht kommt. Man weiß ja nicht, wie Deutschland dann aussehen könnte. Ich denke, wir jungen Leute können uns am wenigsten etwas darunter vorstellen. Die Diversität wird auf jeden Fall darunter leiden.
Und abgesehen von der AfD? Welche Sorgen treiben euch um?
Simon: Ich finde es schade, dass der Klimaschutz gerade kein Thema mehr ist. Ich erlebe aber auch, dass wirtschaftliche Themen in unserer Generation stark im Fokus stehen. Da kommen Fragen auf, wie zum Beispiel, wie finde ich eine Wohnung, wenn ich zum Studieren in eine andere Stadt ziehe und kann ich mir die Miete überhaupt leisten. Oder das große Thema Rente. Da machen sich gerade viele junge Leute Sorgen drum.
Ist Unsicherheit nach eurer Wahrnehmung das Grundgefühl eurer Generation im Moment?
Grace: Schwierige Frage. Ich persönlich schaue eigentlich positiv in die Zukunft. Aber momentan habe ich ein mulmiges Gefühl, weil ich mir einfach nicht mehr vorstellen kann, was nach der Wahl passiert. Ich fühle da schon viel Unsicherheit. Generell finde ich, dass wir zu viel über die AfD nachdenken und was die Partei alles verändern könnte. Dadurch wächst natürlich die Angst.
Sprecht ihr darüber? Nimmt das auch eure Freizeit ein?
Grace: Ja, die Themen nehmen bei mir im Freundeskreis zurzeit schon viel Raum ein.
Simon: Ich habe schon das Gefühl, dass die Sorgen in unserer Generation zunehmen und gleichzeitig auch die Machtlosigkeit. Ich möchte aber trotzdem positiv bleiben. Aus Negativem kann schließlich auch Positives entstehen. Vor fast genau einem Jahr waren diese riesigen Proteste, bei denen so viele Menschen gegen Rechtsextremismus auf die Straße gegangen sind. Viele meiner Freunde und Klassenkameraden sind da zum ersten Mal demonstrieren gegangen. Das ist auch ansteckend und gibt Hoffnung.
Ist die Jugend in den vergangenen Jahren aus eurer Sicht politischer geworden?
Simon: Ich denke, die vielen Streitereien der Ampelkoalition haben den Diskurs mit uns jungen Leuten zerstört, weil sich viele von der Politik distanziert haben. Eben weil sie dachten, ach die streiten doch eh nur, dann ist es auch egal, was man macht. Davon müssen wir wieder weg. Ich würde sagen, unsere Generation wurde in den letzten Jahren verstärkt politisiert, vor allem durch Social Media.
„Unsere Generation wurde durch Social Media politisiert“
Ist Social Media der Wahlstand für eure Generation?
Grace: Wenn ich so in mein Umfeld schaue, informieren sich die meisten Jugendlichen auf jeden Fall über Tiktok – auch wenn es um Politik geht. Ich kenne auch viele, die aktiv nach politischen Inhalten suchen.
Simon: Ja, ich würde sagen, 99 Prozent aus unserer Generation nutzen Social Media, vor allem Tiktok.
Ist das den Parteien eurer Meinung nach bewusst? Holt euch deren Social-Media-Auftritt ab?
Simon: Ich denke, den meisten ist es bewusst, aber sie gehen unterschiedlich mit dem Bewusstsein um. Vor allem die AfD bespielt Tiktok ja sehr erfolgreich und hatte bei der Europawahl mehr Aufrufe als alle anderen Parteien zusammen. Das ist sehr gefährlich.
Grace: Weil man durch Hass leider schneller populär auf Tiktok wird als durch Fakten. Die anderen Parteien müssen mehr in ihren Social-Media-Auftritt stecken.
Simon: Ja, aber die Werte und der Inhalt dürfen nicht darunter leiden. Wir dürfen uns nicht in einer Populismus-Spirale verfangen. Die Parteien müssen auch öfter echte Begegnungen schaffen, damit wir jungen Leute uns abgeholt fühlen. Nicht unbedingt Samstagmorgen am Wahlstand auf dem Wochenmarkt, sondern altersgemäß.
Wie könnte das konkret in Leinfelden-Echterdingen aussehen?
Simon: Man könnte zum Beispiel ein Fußballturnier veranstalten. Erst ein bisschen kicken und dann zusammen was trinken und über die Sorgen und Wünsche unserer Generation sprechen.
Grace: Ja. Und die Politiker unserer Stadt müssten öfter in der Schule vorbeikommen, um für uns Jugendliche nahbarer zu werden.
Jugendgemeinderat Leinfelden-Echterdingen – geringe Wahlbeteiligung
Grace Agbor und Simon Hauser
Im Dezember 2024 wurde der Jugendgemeinderat (JGR) in Leinfelden-Echterdingen neu gewählt. Sowohl die 17-jährige Grace Agbor (CDU) als auch der 17-jährige Simon Hauser (Bündnis 90/Die Grünen) sind Mitglied des JGR in Leinfelden-Echterdingen.
16 Kandidaten für 16 Plätze
Bei der vierten Wahl des JGR in Leinfelden-Echterdingen gab es für 16 Plätze im Gremium 16 Kandidaten. 2929 Jugendliche im Alter von 14 bis 21 Jahren waren bei der vierten JGR-Wahl wahlberechtigt. Gewählt haben 277 Wählerinnen und Wähler, was einer Wahlbeteiligung von 9,46 Prozent entspricht. Insgesamt wurden 3.651 Stimmen abgegeben; jeder Wähler und jede Wählerin hatte 16 Stimmen und konnte pro Kandidat oder Kandidatin bis zu 3 Stimmen vergebe. Das Gremium tagt vier Mal im Jahr in einer öffentlichen Sitzung. Seine Beschlüsse gelten als Anträge an den Gemeinderat.