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Im Schlupfwinkel

Im Schlupfwinkel

In Stuttgart leben rund 1000 Jugendliche ohne festen Wohnsitz. Sie schlafen in Parks, WGs oder auch mal daheim – immer auf der Suche nach ihrem Platz.

Nicole Spiegelburg

Symbolfoto: Adobe Stock

Nicole Spiegelburg

Es ist kurz nach neun. Thorsten Bauer sitzt mit seiner Kaffeetasse am bunt bekritzelten Holztisch. Der 49-Jährige mit Kinnbärtchen und nach hinten gebundenen roten Haaren ist Sozialarbeiter. Und dort, wo er sitzt - in der Wohnküche des Schlupfwinkels in Stuttgart -, werden in einer Stunde Jugendliche frühstücken. Bis dahin muss das Gespräch mit der Redakteurin beendet sein. Denn die jungen Menschen sollen sich im Schlupfwinkel ohne Blicke von außen aufhalten können. Das ist Vertrauenssache.

Die offene Anlauf- und Beratungsstelle von Caritas Stuttgart und Evangelischer Gesellschaft betreut Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 25 Jahren, die kurz davor sind, zuhause rauszufliegen, auf der Straße leben oder sich von Tag zu Tag und von Sofa zu Sofa hangeln. Im Schlupfwinkel können sie duschen, frühstücken, Wäsche waschen. Hier finden sie einen Ort, um runterzukommen und Menschen, die sich kümmern und zuhören, wenn sie erzählen wollen. So wie Thorsten Bauer. Seit 20 Jahren arbeitet er im Schlupfwinkel und schätzt, dass er bis zu 7000 Jugendliche begleitet hat. Die Gründe, warum junge Menschen ihr Zuhause verlassen, sind nicht anders als früher: Eltern, die arbeitslos oder drogenabhängig sind, getrennt leben oder einen neuen Partner haben, mit dem es Konflikte gibt. Verändert haben sich die Jugendlichen selbst. Statt rebellisch und laut, sind sie eher angepasst und tun alles, um nicht „cringe“ - also peinlich auffallend - zu sein. Die Kehrseite: „Dadurch werden sie oft ganz spät als Problemträger erkannt.“

Sozialarbeiter Thorsten Bauer kümmert sich seit 20 Jahren um die Jugendlichen im Schlupfwinkel. Foto: Nicole Spiegelburg
Sozialarbeiter Thorsten Bauer kümmert sich seit 20 Jahren um die Jugendlichen im Schlupfwinkel. Foto: Nicole Spiegelburg

350 Jugendliche docken jährlich im Schlupfwinkel an. Viele trifft der Streetworker in Parks, am Bahnhof oder in der Fußgängerzone. Andere kommen vorbei, weil sie von Gleichaltrigen gehört haben: „Die helfen dir. Denen kannst du vertrauen!“ Ihnen Hoffnung und Wertschätzung zu vermitteln, ist das Ziel der sieben Mitarbeitenden. Wer hier ankommt, hört kein „Du musst!“ oder „Du sollst!“; alles ist freiwillig. „Sobald Dramatik reinkommt, besteht die Gefahr, dass sich Verhaltensmuster wie Abhauen verfestigen“, erklärt Bauer. Statt Druck sollen die Jugendlichen das Gefühl haben: „Denen bin ich nicht egal.“ Die Tür zum Büro steht immer offen. Wer reden möchte, kann ohne Termin vorbeikommen. Vorgegeben oder bewertet wird erst mal nichts, nur behutsam nachgespürt: Was bewegt die jungen Menschen, wo wünschen sie sich Unterstützung und was sind sie bereit zu tun? Wer gravierendere Probleme hat, kann sich an den Trauma-Therapeuten wenden, der direkt im Schlupfwinkel arbeitet. Je nach Bedarf begleitet das Schlupfwinkel-Team die Jugendlichen zu Terminen mit Eltern, Jugendamt oder Schule. Sie schreiben gemeinsam Anträge, um etwa einen Computer für die Schulausbildung zu bekommen, und packen auch bei Umzügen mit an. Häufig dauert die Begleitung mehrere Jahre. „Da sehen wir in den allermeisten Fällen eine positive Entwicklung“, betont Thorsten Bauer.

Wie bei Chiara*, die mit zwölf ihr Zuhause verlässt, weil sie es mit ihrer psychisch kranken Mutter nicht mehr aushält. Das Schlupfwinkel-Team bestärkt das Mädchen, trotz Pendeln zwischen Pflegefamilie und betreuter Wohngruppe ihren Schulabschluss zu machen; ist da, als sie kurz vor der Ausbildung schwanger wird, und begleitet die junge Mutter, bis sie - als ihr Sohn drei ist - eine Ausbildung beginnt. Heute ist Chiara eine selbstbewusste junge Frau mit festem Job in der Gastronomie und lebt mit ihrem Sohn und neuem Partner in einer kleinen Wohnung. Dass sie einmal ohne gesicherte Wohnverhältnisse dastand, ist ihr nicht anzusehen. Thorsten Bauer kennt viele solcher Positivbeispiele: „Wenn man um ihre Vergangenheit weiß, wie bruchstückhaft und zerrissen anfangs alles war, kann man vor den jungen Menschen nur den Hut ziehen.“ 

*Name von der Redaktion geändert

GUT ZU WISSEN

Der Schlupfwinkel ist geöffnet: Montag - Freitag, 10 - 14 Uhr und Montag, Dienstag und Donnerstag, 17 - 19 Uhr. Wegbeschreibung: Haltestelle Österreichischer Platz, Ausgang Weißenburgstraße, in fünf Gehminuten bis in die Schlosserstr. 27, www.schlupfwinkel-stuttgart.de

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