Bürokratieabbau Der Staat und wir

Unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) bemüht sich eine Kommission um Vorschläge für einen „handlungsfähigen Staat“. Zu den Protagonisten gehören der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle sowie die ehemaligen Bundesminister Peer Steinbrück (SPD) und Thomas de Maizière (CDU). Foto: dpa/Sebastian Gollnow

Die wichtigen Reformen bleiben liegen, die Politik ist handlungsunwillig. Das liegt auch an uns, kommentiert Reiner Ruf.

Jenseits des Strebens nach privatem Glück blicken wir, was die öffentlichen Dinge angeht, auf ein Volk des Haderns und Zweifelns, der Missgunst und des Misstrauens. Die Demokratie als Regierungsform und der Staat als Verwaltungsagentur werden als dysfunktional wahrgenommen. Die Unzufriedenheit ist groß, das Grummeln schwillt an. Auskunft über die Stimmungslage gibt eine Umfrage, welche die AfD als stärkste Partei ausmacht. Ein Witz, zieht man in Betracht, dass diese Partei teils quer zur Verfassung steht und, erlangte sie die Macht, den Wohlstand zerstörte.

 

Ja, es gibt Handlungsbedarf, großen sogar. Aber es ist töricht, so zu tun, als wäre früher alles besser gewesen. Ausufernder als die Bürokratie ist die Bürokratiekritik, die manchen Aufwand treffend aufs Korn nimmt, gerne aber auch als Ausrede herhalten muss für eigenen Unwillen und eigenes Unvermögen. Naturschutz, Klimaschutz, der Sozialstaat, Rechtsschutz – man kann es wollen oder nicht; nur sollte man es sagen und dann darüber argumentativ streiten, aber sich nicht hinter dem Totschlag-Argument Bürokratie verstecken. Nehmen wir die Bauern und ihre Klage über Bürokratie. Sie finden Verständnis. Insektensterben und verseuchtes Wasser aber sind Resultate der Landwirtschaft, die sich darum nicht oder wenig kümmerte. Deshalb setzt der Staat Regeln.

Gleichwohl ließe sich eine lange Liste staatlichen Versagens erstellen. Der Rückzug des Staates aus dem Wohnungsbau hat sich als fatal erwiesen, der Markt versagt, und auch die Kommunen scheuen den häufig drohenden innergemeindlichen Streit. Das nicht selten kumulierte Übergehen von Immobilien auf eine begrenzte Zahl von Erben verschärft eminent die Ungleichheit in der Gesellschaft. In Deutschland geht es im Vergleich der entwickelten Staaten besonders ungerecht zu. Das gilt für die Vermögensverteilung und zunehmend auch für das Gesundheitssystem. Das lässt sich ebenso für die Bildungspolitik sagen, die ihn Deutschland systematisch eine Unterschicht von Chancenlosen heranzüchtet.

Prinzipiell sind diese und andere Probleme innerhalb des demokratischen Staatswesens jedoch lösbar. Weil dies im Gegendruck finanzstarker Interessengruppen als beschwerlich imaginiert wird, flüchtet man sich in Ersatzdebatten über arbeitsverweigernde Bürgergeldempfänger, „Genderwahnsinn“ oder Flüchtlinge. Die Probleme werden externalisiert und auf Randgruppen verlagert. Gelöst werden sie nicht. Der Staat zeigt sich in den entscheidenden Fragen als nicht handlungswillig. Das ist etwas anderes als nicht handlungsfähig. Woran liegt das? Nun, der Staat ist kein Abstraktum. Der Gesellschaft ist das verloren gegangen, was Ministerpräsident Winfried Kretschmann „Republikanismus“ nennt: das Mitdenken des Ganzen im Tun des Einzelnen. Um nochmals zur Bürokratie zurückzukommen: In Deutschland klagen Menschen, die ganz genau wissen, dass sie mit 40 oder 50 Kilometern zu viel auf dem Tacho geblitzt wurden, vor Gericht hemmungslos gegen den Bußgeldbescheid – und das teils mit Erfolg, weil Anwalt und Gericht irgendeine Regelungslücke entdecken und einräumen. Diese Lücke wird sodann verschlossen, herrje, die Bürokratie ist wieder ein Stück gewachsen.

Extremer Individualismus führt zu einer Wohlstandsverwahrlosung, die in den Kampf aller gegen alle mündet. Es braucht deshalb mehr Gemeinsinn. Dies ist die Aufgabe, die aller Staatsreform im organisatorisch-technischen Sinn vorangeht. Wenn beides gegeben ist – Gemeinsinn und Handlungswille –, verlieren auch die rechtspopulistischen Schwurbler ihr Publikum.

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