Stuttgart sorgt sich nach einer Gesetzesänderung um seine Pläne für das Rosensteinviertel. Aber ist die neue Regelung wirklich ein städtebauliches Fiasko? Bei einer Anhörung in Berlin vertreten Experten vollkommen gegensätzliche Ansichten.

Stadtentwicklung/Infrastruktur : Christian Milankovic (mil)

Keine einfache Aufgabe für die Mitglieder des Bundestagsverkehrsausschusses und für die von ihnen geladenen Experten: der Kreis sollte am Montagnachmittag über einen Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion zur Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) debattieren, das – wie der Name schon nahelegt – eine Regelung von allgemeiner Natur ist. Die jüngste, von der inzwischen auseinandergebrochenen Ampel-Koalition beschlossene Änderung des Regelwerks hat demnach auch Auswirkungen auf Vorhaben in der ganzen Republik, wovon allerdings das prominenteste wohl Stuttgart 21 ist, in dessen Zug das neue Rosensteinviertel entstehen soll.

 

Trio aus Stuttgart

Und so mäandrierte die Diskussion zwischen allgemeinen Aussagen zur Zukunft des Schienennetzes und der spezifischen Stuttgarter Situation – je nachdem, wer gerade das Wort hatte. Drei der acht Sachverständigen kamen aus Stuttgart: Baubürgermeister Peter Pätzold, Rolf Gaßmann, Vorsitzender des Deutschen Mieterbundes Baden-Württemberg und des Mietervereins Stuttgart sowie Werner Sauerborn, Geschäftsführer des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21.

Hintergrund der Diskussion ist eine Änderung des AEG, das die sogenannte Freistellung von Bahnflächen erschwert. So wird der Vorgang genannt, wenn für Bahnflächen eine neue Verwendung rechtlich ermöglicht wird. Durch die Neuregelung des Gesetzes sieht sich etwa Stuttgart in seiner kommunalen Planungshoheit beschnitten und strebt eine kommunale Verfassungsbeschwerde an. An deren Erfolgsaussichten meldete Urs Kramer, der die Lehrprofessur für Öffentliches Recht an der Uni Passau innehat, erhebliche Zweifel an. Der Jurist nahm auf Vorschlag der Grünen an der Anhörung teil. Kramer glaubt zudem nicht daran, dass die aktuelle Gesetzeslage tatsächlich alle städtebaulichen Entwicklungen zunichtemacht. An die maßgebliche Behörde, das Eisenbahn-Bundesamt (Eba), appellierte er, die „neue Norm in all ihren Möglichkeiten zu nutzen“. Eine abermalige Änderung des Gesetzes, wie von der CDU/CSU-Fraktion angestrebt, hält er für unnötig. Man müsste stattdessen über den „Verwaltungsvollzug nicht aber über die Norm als solche reden“. Er forderte, einen konkreten Fall einer sich in ihrer Entwicklung ausgebremst fühlenden Stadt gerichtlich klären zu lassen.

Städtetag spricht von „einem Fiasko“

Widerspruch kam von Hilmar von Lojewski, der beim Deutschen Städtetag das Dezernat Stadtentwicklung, Bauen, Wohnen und Verkehr leitet. „Das Eba hat derzeit überhaupt keinen Spielraum“, sagte er und machte eine Rechnung auf. Allein der Planungsschaden, der durch den Stillstand bei vielen Vorhaben in der Republik entstanden sei, belaufe sich auf einen zweistelligen Millionenbetrag. „Es ist ein Fiasko, dass die Dinge nicht vorangetrieben werden könnten“. An die anwesenden Verkehrspolitiker appellierte er, die Kuh „noch in dieser Legislatur vom Eis“ zu bringen. Von Lojewski kritisierte, dass die kommunalen Spitzenverbände im Gesetzgebungsverfahren nicht beteiligt gewesen seien.

Wer hingegen daran mitwirkte, ist Dirk Flege. In seiner Eigenschaft als Geschäftsführer der Vereinigung „Allianz pro Schiene“ war er Mitglied der „Beschleunigungskommission Schiene“, die unter anderem auch den nun geltenden Gesetzestext mitentwickelt hat. Nach Fleges Erinnerung habe man dabei nicht ideologisch handeln oder gar „eine starre Schablone“ schaffen wollen. Gleichzeitig erinnerte Flege aber an die massive Schrumpfkur, der das deutsche Schienennetz in den zurückliegenden Jahrzehnten unterzogen worden sei. Es passe nicht zusammen, dass sämtliche Regierungskonstellationen der Vergangenheit einer Stärkung der Schiene das Wort geredet hätten und gleichzeitig immer mehr Infrastruktur der Bahn anderen Nutzungen habe weichen müssen. Eine möglich Kompromisslinie könne eine Stichtagsregelung sein. Für Vorhaben, für die es vor der gesetzlichen Neuregelung rechtskräftige Beschlüsse gegeben habe, könnten die alten Regelungen weiter gelten. Stuttgart hatte die Bahnflächen in der Innenstadt bereits Ende 2001 von der Bahn erworben.

Wo die Stadt schon nachgegeben hat

Daran erinnerte auch der Stuttgarter Baubürgermeister Peter Pätzold – und an die Randflächen, der nun in Rede stehenden Bahnarealen, auf denen auch schon Freistellungen vom Bahnbetriebszweck stattgefunden hätte. Dazu zählt der ehemalige innerstädtische Güterbahnhof, auf dem sich heute das Europaviertel erhebt oder die Areale rund um die Wagenhallen, für die die Stadt bereits konkrete Pläne hat. Es sei nicht Aufgabe einer Stadt einen neuen Bahnhof zu bauen, wohl aber, Wohnflächen für Einwohner zu schaffen, erklärte Pätzold die Beteiligung der Stadt am Projekt Stuttgart 21. Dass Stuttgart durchaus auch auf städtebauliche Entwicklungen zugunsten einer Stärkung der Schiene verzichten kann, machte Pätzold am Beispiel der Panoramastrecke der Gäubahn fest. Auch diese Flächen habe die Stadt gekauft, unterstütze nun aber deren Erhalt als Eisenbahninfrastruktur zwischen dem Nordbahnhof und Stuttgart-Vaihingen.

Kompromissvorschlag vom Mieterbund

An seinen Sinneswandel musste sich Pätzold von Werner Sauerborn erinnern lassen, der aus einer Rede des damaligen Grünen-Stadtrats Pätzold auf einer Montagsdemo der Stuttgart-21-Kritiker zitierte, wonach eine Entwidmung der Bahnflächen wohl nicht möglich seien. Sauerborn erklärte, warum das Aktionsbündnis nun voll und ganz auf den Erhalt des Kopfbahnhofs und der dazu gehören Bahnareale setze mit den nicht ausgeräumten Zweifeln an der Leistungsfähigkeit von Stuttgart 21 oder den aus Sicht der Kritiker ungeklärten Fragen des Brandschutzes. Er begrüßte die neue Gesetzeslage ausdrücklich als „Trendumkehr Richtung Verkehrswende“.

Rolf Gaßmann vom Mieterbund versucht mögliche Kompromisslinien vorzuzeichnen. So schlug er vor, Eisenbahninfrastruktur, für die Alternativen gebaut wurden, wie etwa in Stuttgart, weiterhin freistellen zu können. Angesichts der langen Planungs- und Bauphase löse die neue Rechtslage bei den betroffenen Bürgern Kopfschütteln aus. „Niemand will auf eine ungenutzte Bahnbrache schauen“.