Der Gesetzentwurf war von drei Fraktionschefs unterzeichnet: Andreas Schwarz (Grüne), Manuel Hagel (CDU) und Andreas Stoch (SPD). Gemeinsam mit ihren Abgeordneten brachten sie Ende 2021 die Änderung des Landtagswahlrechts auf den Weg: Ähnlich wie beim Bundestag solle es eine Zweitstimme und Landeslisten geben, damit das Parlament künftig vielfältiger zusammengesetzt sei. Die obligatorische Angabe zu Kosten für die öffentlichen Haushalte las sich beruhigend: „Es entstehen allenfalls geringfügige Kosten.“ Also praktisch keine.
Heute warnt der Landesrechnungshof davor, dass ein auf mehr als 200 Abgeordnete (statt der Sollgröße von 120) aufgeblähter Landtag das Land bis zu 200 Millionen Euro in der Legislaturperiode zusätzlich kosten könne. Ausgaben für Erweiterungen oder Umbauten sind darin, weil schwer kalkulierbar, noch nicht einmal enthalten. Selbst wenn das Parlament infolge des neuen Wahlrechts nur mäßig wächst, gingen die Mehrkosten laut der Kontrollbehörde noch immer in die Millionen.
Landtagspräsidentin weist Verantwortung von sich
Wie konnten die Fraktionen da behaupten, es entstünden „allenfalls geringfügige Kosten“? Wurde die Zustimmung von Volksvertretern und Volk da nicht mit falschen, zumindest fragwürdigen Angaben erschlichen? Die Landtagsverwaltung von Muhterem Aras (Grüne), die längst für ein stark vergrößertes Parlament plant, weist jede Verantwortung von sich. „Für die Richtigkeit der Angaben in Gesetzentwürfen ist ausschließlich verantwortlich, wer den Gesetzentwurf einbringt“, lässt sie ausrichten. Was eine korrekte Angabe gewesen wäre – zum Beispiel: es können Mehrkosten in zwei- bis dreistelliger Millionenhöhe entstehen – möchte sie deshalb nicht sagen.
Nachfrage also bei den Fraktionen. „Wenn der Landtag größer wird, steigen unstreitig die Kosten“, heißt es bei den Grünen. Ob das Parlament wachse oder schrumpfe, hänge jedoch vom Wahlausgang ab. Mehr Abgeordnete gebe es vor allem dann, wenn die Partei mit den meisten Direktmandaten bei den Zweitstimmen relativ schwach abschneide. Das gelte für das alte Wahlrecht wie für das neue. Die Mehrkosten in den „worst-case-Rechnungen“ seien mithin „nur teilweise auf die … Reform zurückzuführen“. Das künftig mögliche Stimmensplitting könne die Vergrößerung befördern, aber auch „dämpfend wirken“.
CDU sieht „keine überzeugenden Berechnungen“
Ähnlich argumentiert die CDU-Fraktion. Die künftige Zusammensetzung des Parlaments hänge vor allem vom Wahlergebnis ab. Dieses könne „in einer Gesetzesbegründung aber nicht vorweggenommen werden“. Es sei „genauso denkbar“, dass der Landtag schrumpfe wie dass er wachse. Die oppositionelle SPD stößt ins gleiche Horn. Es gebe „keine überzeugenden Berechnungen“, dass das neue Wahlrecht „tatsächlich zu einer Vergrößerung des Landtags führen würde“, schreibt der parlamentarische Geschäftsführer Sascha Binder. Unsichere Modellrechnungen taugten nicht „als Grundlage für seriöse Kostenberechnungen“.
Die Grünen hatten auf ihrer Fraktions-Homepage einst sogar glatt bestritten, dass das Wahlrecht den Landtag vergrößern werde. „Im Gegenteil: eher besteht eine Chance zur Verkleinerung.“ Sie verwiesen auf eine Berechnung des Innenministeriums, nach der das Parlament bei der Wahl 2021 genau gleich groß geworden wäre. Eine Aussage, ob es tatsächlich so gekommen wäre, lasse sich jedoch nicht treffen, hatten die Ressorts für Finanzen und Inneres in einer Antwort an AfD-Abgeordnete eingeschränkt. Dies würde „spekulative Annahmen über das Wählerverhalten“ voraussetzen.
Reduzierung der Wahlkreise als Gegenmittel
Richtig an der Begründung der Befürworter ist: Bereits nach dem alten Wahlrecht drohte angesichts der veränderten politischen Landschaft – mit womöglich sechs Fraktionen – eine Vergrößerung des Landtags. Der Wahlrechtsexperte Joachim Behnke von der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen rechnete schon deshalb mit bis zu 180 Abgeordneten; durch die Gesetzesänderung könnten noch mal 20 bis 30 dazukommen. Es gebe aber eine Stellschraube, um das zu verhindern: Man müsse die Zahl der Wahlkreise verringern. Mit ihrem Vorschlag, diese von 70 auf 60 zu reduzieren, gehe die FDP als einzige Fraktion in die richtige Richtung; es reiche aber nicht. Konsequenter sind die Initiatoren des derzeit laufenden Volksbegehrens: Wie beim Bundestag wollen sie auf 38 Wahlkreise heruntergehen.
Doch davon wollten Grüne, CDU und SPD nichts wissen, als sie das neue Wahlrecht im April 2022 verabschiedeten – abgesehen von einzelnen Abweichlern wie dem SPD-Mann Gernot Gruber, der wegen der drohenden Aufblähung den FDP-Vorstoß unterstützte. Es scherte die Mehrheit nicht, dass Experten wie Behnke die Pläne „in der Luft zerrissen“ hatten, so Redner von FDP und AfD; „untauglich“ lautete das Verdikt der bundesweit anerkannten Wahlrechts-Koryphäe. Der Grüne Oliver Hildenbrand sprach unbeeindruckt von einem „historischen Tag für die Landespolitik“, der CDU-Redner Thomas Blenke spottete über die Wahlkreis-Forderung der Liberalen: Sie wollten Probleme lösen, die es gar nicht gebe. Der AfD-Vormann Anton Baron nannte das Wahlgesetz „eine politische Schande und eine Heuchelei obendrein“. Der Landtag werde sich enorm aufblähen, was die Politikverdrossenheit befeuere. FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke bestand auf einer namentlichen Abstimmung. Begründung: Nach der Wahl 2026 solle jeder sehen können, wem man das Riesenparlament verdanke.
CDU will Wahlrecht „prüfen und korrigieren“
Bis dahin hofften die Befürworter wohl Ruhe zu haben. Doch angesichts des laufenden Volksbegehrens und der seit Monaten andauernden Diskussion über den „XXL-Landtag“ müssen sich Abgeordnete immer wieder rechtfertigen. Bei der CDU gilt inzwischen die vom Fraktionschef Hagel ausgegebene Devise, man habe kein Interesse an einem immer größeren Parlament. Sollten sich die derzeit kursierenden Zahlen bestätigen – was man nicht glaube – werde man das Wahlrecht nach der Wahl 2026 „erneut überprüfen und auch korrigieren“.
Zur Frage nach den angeblich „allenfalls geringfügigen Kosten“ wollte sich Hagel gegenüber unserer Zeitung übrigens ebenso wenig persönlich äußern wie sein Grünen-Kollege Schwarz.