Kulturbilanz 2021 Das sagen Stuttgarter Kulturmenschen zum zweiten Corona-Jahr
Was war toll, was war öde? Acht Gäste aus der Kulturszene und sieben Redakteure unserer Zeitung berichten von ihren ganz persönlichen Eindrücken aus einem Jahr, das erneut stark unter dem Regiment des Coronavirus stand.
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Foto LICHTGUT/Leif Piech/ki
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2021 hat es in der Kultur einiges verhagelt – unter anderem riss ein Sturm das Dach des Stuttgarter Opernhauses ab.
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Tim Bengel, bildender Künstler: Mein spannendstes Kulturerlebnis Live in London bei der Wiederversteigerung des geschredderten Banksy dabei zu sein. Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2021 Durch den NFT-Hype wird Kunst immer mehr als Geldanlage gesehen und nach wenigen Wochen wieder verkauft. Das ist weder nachhaltig noch kunstwürdig. Die größte Kulturüberraschung Einige digitale Künstler*innen sind mir positiv aufgefallen. Durch NFTs haben sie zum ersten Mal die Möglichkeit, Unikate zu verkaufen. Das wird den Kunstmarkt nachhaltig verändern. Mein Kulturmensch des Jahres Mein Galerist Christian Rother. Er hat meinen goldenen Avocado-Bagel in Ausstellungen eingebunden und durch seine Pressearbeit über eine Milliarde Menschen erreicht.Foto: dpa/Christoph Schmidt
Foto Foto: F. P. Kistner
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Adrienne Braun, Autorin im Kulturressort: Mein spannendstes Kulturerlebnis Die Ausstellung „Mutter!“ in der Kunsthalle Mannheim: Kunst kann so viel mit uns zu tun haben, wenn man sie nicht ins kunstwissenschaftliche Korsett zwängt. Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2021 Wie feige sich die Schauspieler wegduckten, als sie merkten, dass „Allesdichtmachen“ nach hinten losgeht – und Jan Josef Liefers alles allein ausbaden ließen. Die größte Kulturüberraschung 22 Millionen Euro für Banksys Schredderbild – Wahnsinn! Mein Kulturmensch des Jahres Marina Abramovic, die ewig gekämpft und gelitten hat – und dabei ein so kluges und intensives Werk hervorgebracht hat. (Unbedingt anschauen in der Kunsthalle Tübingen.)
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Shirin Brückner, Geschäftsführerin des Ateliers Brückner in Stuttgart: Mein spannendstes Kulturerlebnis Das Raumerlebnis und der sensible Umgang mit dem Bestand bei Tadao Andos Verwandlung der Pariser Bourse de Commerce in ein Kunstmuseum. Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2021 Für mich ergibt es keinen Sinn, mich mit Ärger und Problemen aufzuhalten. Es ist besser, in Lösungen zu denken. Die größte Kulturüberraschung Die begehbare Rauminstallation des Medienkünstlers Refik Anadol im Kraftwerk Berlin – immersiv, interaktiv, kraftvoll. Mein Kulturmensch des Jahres Alle Künstler*innen, die aus der Krise innovative Formate entwickelt haben, wie die Junge Oper „Nesenbach“ oder Sara Dahmes Kulturkiosk.
Foto Foto: Günther Marsch
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Katinka Emminger, Leiterin der Stadtbibliothek Stuttgart: Mein spannendstes Kulturerlebnis Die Lesung mit Fabian Scheidler, der in seinem Buch „Der Stoff, aus dem wir sind“ zeigt, wie unser technokratisches Weltbild in Klima-Chaos und ökologische Krisen mündet. Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2021 Der Hass und die Häme, denen Frauen im Netz ausgesetzt sind. Die größte Kulturüberraschung Der Beschluss des Gemeinderats, das Netz der Stadtteilbibliotheken auszubauen, um die kulturelle Teilhabe in Wohnortnähe zu ermöglichen. Mein Kulturmensch des Jahres Alle, die sich dem Virus entgegenstemmen und neue Formate kreieren, um weiterhin die Begegnung mit Kunst und Kultur zu ermöglichen.
Foto Foto: Steffen Schmid
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Nicole Golombek, Redakteurin in den Ressorts Leben und Kultur: Mein spannendstes Kulturerlebnis Das Prokofjew-Konzert in der Liederhalle, dirigiert von Teodor Currentzis: Ein wilder, zärtlicher, witziger, enthusiastischer, geheimnisvoller Ritt durch russische Weiten.Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2021 Die Stadt und ihre kulturellen Ikonen: Metropol-Kino perdu, das Hajek-Haus rottet, der Oper fliegt das Dach weg. Die größte Kulturüberraschung Lars Eidinger verkörpert den „Jedermann“ in Salzburg so, dass man dem Sünder erstmals wünscht, Gott möge ihm verzeihen. Mein Kulturmensch des Jahres Angela Winkler. Anrührender als in Krachts „Eurotrash“ an der Schaubühne lässt sich Liebe, Hass, Einsamkeit einer Mutter nicht spielen.
Foto Foto: privat
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Bernd Haasis, Redakteur im Kulturressort: Mein spannendstes Kulturerlebnis Wie John Williams mit den Berliner Philharmonikern Musiken aus „Star Wars“ und „Harry Potter“ live dargeboten hat: zum Niederknien. Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2021 Hilflos sieht die Stadt zu, wie Union Investment der Rendite zuliebe das Metropolkino sterben lässt – und mit ihm einen 100-jährigen Kulturort hinter der alten Bahnhofsfassade, der den Stuttgartern viele denkwürdige Ereignisse beschert hat.Die größte Kulturüberraschung Corona zum Trotz haben die Jazz Open im September eine Sonderausgabe gestemmt und endlich wieder Festivalzauber in die Stadt gebracht. Mein Kulturmensch des Jahres Der Kabarettist Josef Hader bringt die Lage satirisch auf den Punkt: „Sklaverei ist die Lösung!“
Foto Foto: Leif Piechowski
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Ulla Hanselmann, Redakteurin im Kulturressort: Mein spannendstes Kulturerlebnis Das für mich schönste Gebäude Berlins, die Neue Nationalgalerie, wieder erleben zu dürfen. Hut ab vor David Chipperfield für seine Sanierung ganz im Geiste Mies van der Rohes.Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2021 Der menschenverachtende Umgang mit den Geflüchteten zwischen Polen und Belarus. Europa versagt. Die größte Kulturüberraschung Ein Kulturbauprojekt gelingt ohne Kostenexplosion und Terminchaos – das neue Münchner Volkstheater zeigt, wie’s geht.Mein Kulturmensch des Jahres Die Lehmbau-Pionierin Anna Heringer, die schon seit Jahren zeigt, dass Nachhaltigkeit machbar ist – wenn man es will.
Foto Foto: Julian Rettig
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Thomas Klingenmaier, Redakteur im Kulturressort: Mein spannendstes Kulturerlebnis Die Romane und Storys des Afroamerikaners Percival Everett, von dem im Januar auf Deutsch „Erschütterung“ erscheinen wird.Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2021 Der Schadfraß eines als Achtsamkeit getarnten Zensureifers.Die größte Kulturüberraschung Peter Jacksons dreiteilige Beatles-Doku „Get Back“ (Disney+). Man erlebt einen entscheidenden Moment der wichtigsten Popband – und alles ist anders, als man zu wissen meinte. Mein Kulturmensch des Jahres Der mit 91 Jahren an Covid-19 verstorbene Jazzpianist Barry Harris, Fackelträger des Bebop, der bis zuletzt im Netz unterrichtete und das Beste aus einer miesen Lage machte.
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Sylvana Krappatsch, Schauspielerin im Schauspiel Stuttgart: Mein spannendstes Kulturerlebnis „Richard the Kid the King“ mit Lina Beckmann. Das war toll. Sie lässt den Dreckskerl schillern.Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2021 Leider geht viel Irrationalität und fehlendes Verständnis von Fakten durch die Politik hindurch bis hinein in die Gesellschaft. Das ist atemberaubend und geht weit über Corona hinaus.Die größte Kulturüberraschung Die Achtsamkeit in der Sprache unserer Ampel während/nach Koalitionsverhandlungen ( welchen Coach haben die wohl engagiert!?).Mein Kulturmensch des Jahres Christoph Schlingensief. Ich vermisse diesen Aufrührer und Umrüttler. Was der 2021 wohl veranstaltet hätte!Foto: Achim Zweygarth
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Yvy Pop, Sängerin der Band Mondo Sangue: Mein spannendstes Kulturerlebnis „Raw“, der erste Langfilm von Cannes-Preisträgerin Julia Decourneau, gesehen in der Reihe „Cinema Futuro“ in den Innenstadtkinos.Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2021 Der Verlust des Metropols als Kino und Festivalspielstätte und das fehlende Bekenntnis zu (sub-)kulturellen Orten. Die größte Kulturüberraschung Die About-Pop-Konferenz 2021. Das Popbüro lud zum vielseitigen und diversen Programm rund um Pop Kultur – und alle kamen. Meine Kulturmenschen des Jahres Das Zentrum für Politische Schönheit mit seinen klugen und bissigen Aktionen gegen den Rechtsruck in der Gesellschaft.
Foto Foto: privat
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Gunther Reinhardt, stellvertretender Leiter des Kulturressorts: Mein spannendstes Kulturerlebnis Als es kurz so aussah, als ginge der Pandemie die Puste aus, maskenlose 2G-Konzerte erlaubt waren und ich mich glücklich im Ratinger Hof in Düsseldorf drängeln durfte, während die Fehlfarben „Es geht voran!“ spielten. Abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2021 Dieter Hallervorden, der nicht merkt, wie grotesk es ist, gendern als „Vergewaltigung der deutschen Sprache“ zu bezeichnen. Die größte Kulturüberraschung Nach BTS, Blackpink und „Parasite“ kam 2021 „Squid Game“: Die besten Popkultur-Aufreger hat derzeit zuverlässig Südkorea zu bieten. Mein Kulturmensch des Jahres Claudia Roth, die als neue Kulturstaatsministerin in Stuttgart erst mal in den Plattenladen geht.
Foto Foto: Lichtgut/Leif Piechowski
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Tim Schleider, Leiter des Kulturressorts: Mein spannendstes Kulturerlebnis Philipp Stölzls Inszenierung bei den Bregenzer Festspielen; der „Rigoletto“ mit dem riesigen Kopf überm Bodensee. Keine Effekthascherei, sondern genau bedacht – großartig.Abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2021 Die grassierenden Kultur-Zensurdebatten, nun also im Namen des linken Fortschritts – dass ich das noch miterleben muss . . .Die größte Kulturüberraschung Felix Krull, Schachnovelle, Bond, Spiderman, „House of Gucci“, „West Side Story“: so viele super Filme im Kino nach dem Lockdown! Mein Kulturmensch des Jahres Die Impfstoff-Pioniere Ugur Sahin und Özlem Türeci von Biontech – gut, dass Migranten schon nach Deutschland gekommen sind, als es die CDU/CSU noch partout verhindern wollte.
Foto Foto: Matthias Baus
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Helene Schneiderman, Mezzosopranistin an der Staatsoper Stuttgart: Mein spannendstes Kulturerlebnis Mein Wiener Staatsopern-Debüt als Larina in „Eugen Onegin“. Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2021 Schwerer als zwei gebrochene Finger wiegen die vielen coronabedingten Absagen. Das ist für Sänger ein großer Druck – oft hat man Monate umsonst gearbeitet. Die größte Kulturüberraschung Die Offenheit und das große Interesse von Schülern an der Biografie meiner Mutter – das hat mich überrascht und tief gerührt. Mein Kulturmensch des Jahres Zwei faszinierende Künstler: der amerikanische Tenor Lawrence Brownlee und die Pianistin Martha Argerich – immer noch, immer wieder!
Foto Foto: Roman Novitzky
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Agnes Su, Erste Solistin des Stuttgarter Balletts: Mein spannendstes Kulturerlebnis war die Gelegenheit, eine Mischung aus Meisterwerken tanzen zu dürfen, die von Klassikern bis hin zu denen meiner Generation reichte. Es war ein Traumjahr!Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2021 war die Unmöglichkeit, weit im Voraus zu planen. Und das wird sicherlich noch auf unbestimmte Zeit andauern.Die größte Kulturüberraschung war mein Besuch in den USA und die Wiederentdeckung der schönen kulturellen Vielfalt dort. Mein Kulturmensch des Jahres ist der Tanznachwuchs – alle, die in den Beruf einsteigen mussten, ohne eine coronafreie Saison erleben zu dürfen. Ihre Geduld, Entschlossenheit und Motivation sind inspirierend.
Foto Foto: Baumann
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Lea Wagner, SWR-Redakteurin und Moderatorin der ARD-“Sportschau“: Mein spannendstes Kulturerlebnis Die Fußball-EM im Sommer: endlich wieder Fußball live in vollen Stadien. Ohne diese Atmosphäre ist der Sport nicht der gleiche.Ganz abgesehen von Corona – das größte Ärgernis 2021 Dass der Zugang zur Kultur für Kinder und das eigene freie Ausprobieren wegen der Pandemie nun schon so lange Zeit erschwert wird.Die größte Kulturüberraschung Japan! Das Land hat mich bei den Olympischen Spielen mit seiner ganz eigenen Kultur fasziniert. Mein Kulturmensch des Jahres Skispringer Andre Tande – wie er nach seinem schrecklichen Sturz und dem Koma seine Ängste überwunden hat und wieder auf die Schanze zurückgekehrt ist, das ist inspirierend.