Lese-Tipps Zehn Bücher für den Sommer
Aus der Fülle der Neuerscheinungen haben wir die zehn Buchhöhepunkte des Sommers ausgewählt. Welche, erfahren Sie in unserer Bildergalerie.
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Foto imago images/Westend61/Steve Brookland
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Wer liest, ist immer woanders.
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Leïla Slimani: Das Land der Anderen. Roman. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Luchterhand Literaturverlag. 386 Seiten, 22 Euro. Die französisch-marokkanische Autorin Leïla Slimani hat in ihrem neuen Roman die Geschichte ihrer Großeltern verarbeitet, einem marokkanischen Offizier, im Dienst der französischen Armee und einer Elsässerin. Auf dem kargen Grund eines Landguts nahe der marokkanischen Stadt Meknes bauen sie sich nach dem Ende des 2. Weltkriegs eine Existenz auf. Doch statt der Früchte ihrer Träume, ernten sie Entzweiung, Zweifel und Ernüchterung. Der Aufbruch in die Freiheit endet in neuen Zwängen. Die junge Familie gerät zwischen die Fronten der französischen Kolonialmacht und den nationalistischen Kräften, die für die Unabhängigkeit kämpfen. Slimani pfropft Kolonial- und Sozialhistorie, die gegensätzlichen Triebe von Feminismus und Patriarchat, Liebe und Gewalt, Islam und Christentum auf den Stamm der Familiengeschichte. Ihr Roman erzählt von Migration einmal in der anderen Richtung, von Norden nach Süden. „Das Land der Anderen“ ist der erste Band einer Trilogie – und ein Leserereignis, das seinesgleichen sucht.
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Peter Buwalda: Otmars Söhne. Roman. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Rowohlt Verlag. 624 Seiten, 24 Euro. Ludwig soll ein Junge heißen, dessen Erzeuger sich aus dem Staub gemacht hat, und der nun im musikalischen Haus seines Stiefvaters Otmar unter Wunderkindern aufwächst, einem neurotisch-hochbegabten Halbbruder, der vor einer großen Pianistenkarriere steht, und dessen Schwester, einer Geigerin. Den bewundernswerten Begabungen seiner Halbgeschwister hat Ludwig vor allem ein Talent, sich unwohl zu fühlen, entgegenzusetzen. Die aus Thailand stammende Isabelle wiederum ist die Adoptivtochter einer angesehenen niederländischen Familie. Eine pikante Angelegenheit im Umfeld der Familie entzweit sie mit ihrem reaktionären Großvater, einem Kinderbuchautor, Politiker und leidenschaftlichen de-Sade-Leser. Und dann ist da noch ein Shell-Manger der im Leben von beiden eine herausragende Rolle spielt. Gebrochene Familienbande, gesellschaftliche und sexuelle Machtverhältnisse sowie einen verlorenen Sonatensatz Beethovens verknüpft der niederländische Autor Peter Buwalda zu einem vielstimmigen Roman.
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Shida Bazyar: Drei Kameradinnen. Kiepenheuer & Witsch. 352 Seiten, 22 Euro. Die Freundinnen der Erzählerin kamen aus Ländern nach Deutschland, in denen Bürgerkriege wüteten oder politische Verhältnisse, die schwangere Mütter dazu zwangen, ihre Kinder im Gefängnis zu gebären. Mit ihnen ist sie aufgewachsen, in Ghettos, in die „seit Generationen der soziale Abschaum einquartiert wird“. Es ist nicht einfach, einen Namen zu haben, den viele nicht richtig aussprechen können oder wollen. Trotz eines mit Bestnote absolvierten Soziologiestudiums müsste die Erzählerin wohl gerade einen Berg von 83 Absagen und ebenso vieler Hartz-IV-Bescheide sortieren, wenn sie nicht aufschreiben müsste, wie es zu den schrecklichen Ereignissen kam, von denen „Drei Kameradinnen“ erzählt. Shida Bazyars Roman ist kein Sprachrohr, sondern eine raffinierte literarische Versuchsanordnung, zu der die kalkulierte Herausforderung der Leser ebenso gehört wie die Zurückeroberung der Autorschaft jener, die sonst erdulden müssen, beschrieben zu werden.
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Steve Sem-Sandberg: „W.“. Roman. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart. 406 Seiten, 25 Euro. Zweihundert Jahre liegt der Fall nun zurück. Am 2. Juni 1821 erstach der Hilfsarbeiter und ehemalige Soldat Johann Christian Woyzeck seine Geliebte, die Chirurgenwitwe Johanna Christiane Woost. Die Frage, wer ihm dabei die Hand geführt hat, Eifersucht, innere Stimmen oder eine soziale Misere, die die Menschen zerstört und zu Tieren macht, beschäftigt seitdem die Nachwelt. Spätestens seit Georg Büchner 1836 aus der Affäre ein den Horizont der Zeit visionär überschreitendes Sozialdrama geformt hat. Nun blickt der schwedische Autor Steve Sem-Sandberg in den schwindelnden Abgrund der Figur. Aus historischen Dokumenten, Akten, Quellen, Büchner-Zitaten gibt er dem stets Übervorteilten, der nie für sich selbst sprechen durfte, eine unheimlich Stimme.
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Helga Schubert: Vom Aufstehen. DTV. 224 Seiten, 22 Euro. Wer etwas vom Glück des Aufwachens in einer Hängematte am ersten Tag der Sommerferien im Greifswalder Garten der Großmutter erfahren möchte oder über den wohlriechenden Duft westlicher Viertakter im Vergleich zu dem unangenehmen Geruch der Ost-Zweitakter, wer wissen will, wie es ist, älter zu werden, in einem Landstrich, der im politischen Gezeitenwechsel ständig seinen Namen ändert, der findet in diesen 29 Miniaturen und Denkbildern ein unerschöpfliches Reservoir an Wahrnehmungen unterhalb der Schwelle offizieller Geschichtsschreibung. „Vom Aufstehen“ ist ein Buch der Erinnerung. Was es der lebensvereitelnden Last zweier politischer Zwangssysteme abgerungen hat, besteht aus dem Zusammenwirken kleiner Einheiten, die sich totalitärem Pathos, großen Panoramen und autoritären Gesten widersetzen
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Mathias Enard: Das Jahresbankett der Totengräber. Roman. 480 Seiten, 26 Euro. Über die Rückkehr aufs Land haben schon viele geschrieben. Doch ganz gewiss noch niemand so wie der französische Autor Mathias Enard in seinem neuen Werk „Das Jahresbankett der Totengräber“. Was wie ein ethnologisches Unternehmen in einem nordwestfranzösischen Randgebiet beginnt, weitet sich zu einer festlich ausufernden Seelenwanderung durch den Kosmos von Geschichte und Geschichten. Die Menschen, mit denen man hier zu tun bekommt, haben eine lange Reinkarnationskarriere hinter sich, waren Vögel, Bauern, Mann, Frau, Bandit und vieles mehr. Viel Arbeit für die Totengräber, deren deftiges Gelage in der Mitte des Bandes eine einzige Feier des Lebens ist, bei der Windbeutel, Nonnenfürzchen und Derbheiten aller Art nur so durcheinander fliegen. Bei aller Verbeugung vor dem wilden Denken großer Ethnologen – mit den Erfahrungen, über die dieser Roman das Terrain erschließt, können sie dann doch nicht wetteifern.
Foto Verlag. Im Mittelpunkt steht der – fiktive – Fall der indischstämmigen Professorin Saraswati, die als Speerspitze des antirassistischen Diskurses an der Universität Düsseldorf den ersten Lehrstuhl für Postkoloniale Theorie innehat und in ihrem Kampf für die Anliegen von Persons of Color, kurz PoCs, gegen die weiße Mehrheitsgesellschaft auch vor unkonventionellen Methoden nicht zurückschreckt. So kann es passieren, dass sie weiße Studierende aus ihren Seminaren komplimentiert mit dem Hinweis, diese seien nur für Students of Color bestimmt. Bis die Bombe platzt und die von indischer Weisheit umflorte Galionsfigur akademischer Diversitätsdiskurse Saraswati als Karlsruher Zahnarzttochter namens Sarah Vera Thielmann enttarnt wird. Die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal erzählt in „Identitti“ von den Fallstricken des Wunsches nach eindeutiger Zugehörigkeit. Näher an die Debattenwirklichkeit unserer Tage kann man nicht gelangen.
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Mithu Sanyal: Identitti. Roman. Hanser Verlag. 432 Seiten, 22 Euro.
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Joachim Zelter: Die Verabschiebung. Roman. Edition Klöpfer bei Kröner. 160 Seiten, 18 Euro. Der pakistanische Asylbewerber Faizal ist das, was man wohl gut integriert nennen könnte. Er wird allseits geschätzt, hat vielversprechende Pläne – und außerdem ist er seit kurzem mit einer deutschen Frau verheiratet. Doch all das spielt für die Behörden keine Rolle. Sie haben ihre Regeln, und Begriffe – wie Scheinehe. Der Asylantrag wird abgelehnt. Der Tübinger Autor Joachim Zelter lässt in seinen Werken oft groteske Funken stieben, wenn die Parallelwelten von Sprache und der Dürftigkeit des Seins aufeinandertreffen. Sein brillanten neuer Roman „Die Verabschiedung“ handelt davon, welche Schicksale in dem Abgrund verschwinden, der zwischen Begriffen und Lebensrealitäten klafft.
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Zeruya Shalev: Schicksal. Roman. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Piper-Verlag. 416 Seiten, 24 Euro. Um herauszufinden, warum das Verhältnis zu ihrem Vater so belastet war, sucht die Denkmalschützerin Atara eines Tages dessen erste Frau Rachel auf. Wie Ataras Vater war Rachel Mitglied einer zionistischen Partisanenorganisation, die gegen die einstige britische Mandatsmacht gekämpft hat, um in friedlicher Koexistenz mit den in Palästina lebenden Arabern einen gemeinsamen Staat aufzubauen. Bis eine schreckliche Verkettung unglücklicher Umstände die Beziehung zu Rachel von einem auf den anderen Tag zerstört. Je mehr Atara eindringt in die Schichten der Familienvergangenheit, desto nachgiebiger wird das Fundament, auf dem sie ihr Leben aufgebaut hat. Zeruya Shalev ist die Großmeisterin komplexer Beziehungsgeschichten. In ihrem neuen Roman kommt die Geschichte als handlungsbestimmendes Moment dazu. Die Schicksalsverstrickung dieses Romans führen zwingend vor Augen, wie weit das Privateste unterwandert ist von jenen Kräften, die in Israel immer wieder zeigen, wie schnell sie alles, an was einer Denkmalschützerin gelegen sein könnte, in Schutt und Asche verwandeln.
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Norbert Gstrein: Der zweite Jakob. Roman. Hanser Verlag. 448 Seiten, 25 Euro. Norbert Gstreins kunstvoll konstruierter Roman entfaltet eine so unmittelbare und atemlos fesselnde Wirkung wie ein Krimi. Was ihn vorantreibt, ist nicht die Suche nach dem Täter, sondern die Suche nach dem Ich – was im Zweifel auf dasselbe hinausläuft. Der Ausgangspunkt ist der bevorstehende 60. Geburtstag eines in einem kleinen Tiroler Dorf geborenen und in der großen Welt zu einiger Bekanntheit gelangten Schauspielers. Als der auf Frauenmorde spezialisierte Darsteller bei den Dreharbeiten für ein Melodrama im Grenzermilieu in Texas die Grenze nach Mexiko überschreitet, findet er sich plötzlich selbst hautnah mit einer Serie bestialischer Femizide konfrontiert. So solide der Roman aufgebaut ist, so irritierend löst sich das Leben in eine flirrende Folge von Parallelstellen, Spiegelungen und Korrespondenzen auf. Träume werden zu Vorausdeutungen, immer wieder überlagern sich Film und Wirklichkeit. Der österreichische Autor Norbert Gstrein zeigt sich hier auf der Höhe seiner Kunst.