Ukrainer in Stuttgart Die Gesichter des Krieges
Hunderte Flüchtlinge aus der Ukraine kommen in diesen Tagen in Stuttgart an. Acht Familien haben uns ihre Geschichte erzählt.
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Jefim (7) aus Dnipro ist mit seiner Mutter und seiner Oma diese Woche am Stuttgarter Bahnhof angekommen.
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Natalia, Alina, Marina und Carina aus Charkiw (immer von links nach rechts): Am 4. März ist eine Bombe in ihre Wohnung geflogen. Natalia und ihre erwachsenen Töchter Alina und Carina standen im Flur, als es passierte. Als sie ins Wohnzimmer gingen, klaffte ein Loch in der Wand, offen zum hellblauen Winterhimmel. Äußerlich unverletzt raffte die Familie das Nötigste zusammen und floh noch am selben Tag aus Charkiw. 22 Stunden waren sie unterwegs, erzählt Natalia, legten sich im Zug auf den Boden zum Schlafen. „Wir haben schreckliche Angst“, sagt Marina, die Schwiegermutter von Carina. Ihr Mann und ihre Söhne sind noch in der Ukraine. Marina kommen die Tränen, als sie am Bahnsteig fotografiert wird. Später sagt sie, sie habe an ihren Bruder in Russland denken müssen, er glaubt nicht, was sie ihm aus der Ukraine erzählt, er sagt: „Ihr werdet von Russland gerettet.“
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Irina, Oleksandra, Jefim, Yuliya, Swatoslaw, Tatjana, Andrej und Tamara aus Dnipro: „Ich hätte nie gedacht, dass wir auf unsere alten Tage noch zu Obdachlosen werden.“ Irina, einer Frau Ende sechzig, kommen die Tränen. Aus Dnipro, der viertgrößten Stadt der Ukraine, ist sie mit ihrer Tochter und dem Enkel geflohen. An diesem Morgen kommen sie aus München in Stuttgart an. „Wir sind ganz normale, friedliche Menschen“, sagt sie und wischt sich mit einem Tuch über das Gesicht. „Wir sind hier, um unsere Kinder vor dem Krieg zu bewahren.“ Neulich noch hätten sie auf einer Reise den Zoo in Charkiw besucht, erzählt sie. Jetzt sei die Stadt wie vom Erdboden verschwunden. Tamara, die auch mit Tochter und Enkelkind unterwegs ist, sagt: „Wir wollen niemandem zur Last fallen. Wir wollen hier Arbeit suchen.“ Ihr Haus und ihre Männer haben die Frauen in Dnipro zurück gelassen. Irinas greise Mutter ist auch noch dort. Sie wurde als Zwangsarbeiterin von Deutschen im Zweiten Weltkrieg verschleppt, erzählt Irina. „Sie geht nirgends mehr hin. Sie sagt, dieses Mal überlebe sie es nicht.“
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Murat, Ajsu, Vlada und Aisel aus Charkiw: „Heute ist der siebte Tag unserer Flucht, ich bin durcheinander“, sagt Vlada. Sie fängt an zu weinen und kann überhaupt nicht mehr sagen, wie sie mit ihren drei Kindern von Charkiw nach Stuttgart gekommen ist. Aisel, ihre elfjährige Tochter, sitzt neben ihr im Wartesaal des Bahnhofs und starrt auf den Boden. Ajsu (9) und Murat (6) malen an einem kleinen Tisch. Ursprünglich lebte die Familie in Donezk, erzählt Vlada, und musste 2014 bereits fliehen, sich alles neu aufbauen. Jetzt wurde wieder geschossen, alles zerbombt. „Das Haus, das Auto, wir mussten alles erneut zurück lassen“, sagt Vlada. Auch ihre Mutter. Vladas Stimme wird leiser und bricht. „Meine Mutter ist frisch operiert, sie konnte nicht gehen.“ Der Bruder ist noch dort, er passt auf die Mutter auf, doch wie lange kann er sich noch aus den Kämpfen raushalten? „Ich möchte nach Hause.“ Vlada weint.
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Zynovij, Oleksandra und Helena aus Kiew: Am frühen Morgen des 29. Februars haben Helena und Zynovij ihre Wohnungstür dreimal abgeschlossen, der Nachbarin den Schlüssel gegeben und sich zusammen mit Zynovijs Mitarbeiterin Oleksandra ins Auto gesetzt. In Richtung Lwiw sind sie einfach drauf los gefahren. Helena schluchzt in ein Taschentuch, als sie sich an den letzten Tag in ihrer Heimatstadt Kiew erinnert. Im Zentrum der Hauptstadt hatten sie und Zynovij eine schicke Wohnung mit 180 Quadratmetern, erzählt die hellblonde Frau mit pink lackierten Fingernägeln. Werden sie je dorthin zurückkehren? Was sollen sie hier in diesem fremden Land tun? Die Tochter des Paars ist mit dem Enkelkind und zwei Hunden noch in Kroatien, in Stuttgart wollen sie auf sie warten. „Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass wir einfach gegangen sind und unser Land zurückgelassen haben“, sagt Helena. „Aber was hätten wir tun sollen?“
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Vlad und Tanja aus Charkiw: Tanja fühlt sich wohl in Stuttgart, sie hat die Nacht in einem Hotel verbracht. Es sei für sie ganz ungewohnt, dass hier nirgends geschossen werde, sagt die 34-jährige Frau. „Wir saßen vom 24. Februar an fünf Tage lang im Keller“, erzählt Tanja, um sie herum fielen Bomben auf ihre Stadt Charkiw. Die Schule von Tanjas elfjährigem Sohn Vlad stand direkt neben dem Haus, in dem er mit seinen Eltern wohnte. Sie wurde komplett zerstört. Doch das Haus mit der Wohnung der Familie im 16. Stock stand noch, als sie sich von Freunden ein Auto liehen, um damit zu fliehen. Ihr eigenes Auto war längst zerschossen worden. Vlads Vater ist in Lwiw an der Grenze zu Polen, erzählt Tanja. Sie möchte in Stuttgart helfen, wo sie nur kann, andere Flüchtlinge unterstützen. „Ich will mich nützlich machen“, sagt Tanja. Die junge Mutter wirkt gefasst, sie sagt: „Wir sind sehr traurig. Wir lieben unsere Heimat und hoffen, dass wir bald zurück können und alles wieder aufbauen.“ Bei den Reportern bedankt sich Tanja „für die Aufklärung, dafür, dass ihr unsere Geschichte erzählt“.
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Aljona und Eugenia aus Hostomel und Kiew: „Viele wurden auf der Flucht im Auto erschossen“, erzählt Aljona. „Wir hatten einfach Glück.“ Aljona wartet zusammen mit ihrer Tochter Eugenia am Stuttgarter Bahnhof darauf, dass jemand sie abholt und zu einem Wohnheim führt. Aljona kommt aus Hostomel, südlich von Kiew. „Ich hatte ein schönes Haus, ich möchte zurück“, sagt sie. Ihr Mann ist noch dort. Ihre Tochter Eugenia und die Enkelkinder, die jetzt in einem Stuttgarter Hotel warten, kommen aus Kiew. Gerade erst hat Eugenia ihrer zehnjährigen Tochter ein Klavier gekauft. „Sie ist Klassenbeste“, erzählt Eugenia und zeigt Bilder auf ihrem Handy von dem modern eingerichteten Wohnzimmer mit Klavier: weiße Bücherregale, hohe Decken, schöner Holzboden. „Im Sommer haben wir einen Urlaub geplant“, sagt Eugenia. „In meinem Kleiderschrank in Kiew habe ich 50 Paar Schuhe, zu jedem Outfit. Und dann kam der Krieg.“
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Tatjana, Anastasia, Tamara und Vladimir aus Saporischschja: Alles, was sie noch haben, steckt in ein paar Einkaufstaschen und Stoffbeuteln. Doch Vladimir und seine Familie fühlen große Dankbarkeit. „Überall wurde uns geholfen. Gott ist zu verdanken, dass wir noch am Leben sind“, sagt Vladimir, der als Mann über 60 die Ukraine noch verlassen durfte. Tamara und Tatjana, zwei ältere Frauen, tragen Kopftücher, die Familie aus Saporischschja in der südlichen Ukraine ist sehr gläubig. Über Warschau kamen sie nach Stuttgart – und bleiben nicht lange. Das Ziel ist Osnabrück, wo Freunde leben. „Wir hatten unfassbares Glück, wir sind den Bomben entkommen“, sagt Vladimir. „Jedes Mal, wenn wir weiter gezogen sind, haben wir gehört, dass Schlimmes passiert ist an dem Ort, den wir gerade erst verlassen hatten.“ Seinen Bruder musste Vladimir zurücklassen und auch seine Cousine. Ihr Schicksal ist wie das von Millionen Ukrainern ungewiss.
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Alana, Galina, Stjepan und Anna aus Odessa: Alana sitzt am Boden auf einer Decke. Das vierjährige Mädchen spielt mit einer Barbie. „Als klar war, es ist Krieg, haben wir sofort die Koffer gepackt“, erzählt Anna. Zwei Wochen lang war die Familie in Berlin und Bernau in einem Flüchtlingszentrum. „Wir haben sehr viel Hilfe bekommen, die Leute waren nett, aber nichts ging voran, man sagte uns nicht, wo wir hin können.“ Deshalb reisen sie nun auf eigene Faust in die Schweiz. Weil die Familie insgesamt drei Kinder hat, durfte auch der Vater die Ukraine verlassen und wartet schon auf den Rest in der Schweiz. „Ich bin Immobilienmaklerin“, sagt Anna. „Ich möchte mein Leben zurück, nicht irgendwo als Putzfrau arbeiten.“ Anna bedankt sich bei den Reportern für die Gastfreundschaft in Deutschland.