Ampeln regeln seit 100 Jahren den Verkehr. Aber sie werden nicht optimal gesteuert, sagt der Verkehrsforscher Dirk Helbing im StZ-Interview. Er untersucht, wie sich Staus in Städten vermeiden lassen, wenn man auf eine Verkehrsleitzentrale verzichtet.

Familie, Bildung, Soziales : Michael Trauthig (rau)
Herr Helbing, 100 Jahre Ampel, ist das eine Erfolgsgeschichte?
Natürlich. Das zeigt schon die massenhafte Verbreitung bisher. Die Ampel hat geholfen, des zunehmenden Verkehrs Herr zu werden. Sie hat so Mobilität ermöglicht. Sie hat Unfälle vermieden und auf diese Weise auch Menschenleben gerettet. Sie ist allerdings kein Allheilmittel.
Was meinen Sie damit?
Sie brauchen Ampeln, wenn die Verkehrsströme ein gewisses Maß überschreiten. Ampeln koordinieren den Verkehr und sorgen so für eine effiziente Nutzung der Straßenkapazitäten. Bei einem niedrigeren Verkehrsaufkommen sind Kreisverkehre aber die bessere Lösung. Sie reduzieren die Wartezeiten, und der Verkehrsfluss koordiniert sich quasi von selbst.
Gibt es bessere und schlechtere Ampeln, international sind die Formen verschieden?
Die konkrete Gestaltung ist mehr eine Frage der Gewohnheit oder des Geschmacks. Bedeutender ist, ob den Fußgängern oder Autofahrern – etwa durch das Herunterzählen der Sekunden – angezeigt wird, wann es wieder Grün wird. Wichtig ist auch, ob es eine grüne Welle gibt und die Koordination der Ampeln untereinander funktioniert. Denn es ist keineswegs so, dass das Straßennetz eine feste Kapazität hat. Das gilt nicht einmal für die Autobahnen. Wenn dort der freie Verkehrsfluss zusammenbricht, gehen 30 Prozent der Kapazität verloren. Im Stadtverkehr gibt es sogar noch viel höhere Verluste.
Funktioniert denn die Steuerung in unseren Citys? Es heißt, ein Mensch verbringe zwei Wochen seines Lebens vor roten Ampeln.
Ich glaube, dass man durchschnittlich viel länger an roten Ampeln wartet. Diese Zeitverschwendung ist nicht zwingend. So lässt sich zum Beispiel fragen, ob man nicht Städte bauen könnte, die ganz ohne Ampeln auskommen. Wir haben das einmal geprüft und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass dies theoretisch möglich wäre, wenn man kreuzende Verkehrsflüsse vermeidet. Allerdings stecken hinter der Installation von Ampeln ja handfeste ökonomische Gründe. Ampeln sind eine gute Geldquelle für viele Leute. Sie müssen hergestellt werden, aufgebaut, verbunden, gewartet und betrieben. Es braucht ein Rechenzentrum zur Steuerung. Da stecken Millionen drin.
Sie haben ein Konzept entwickelt, mit Ampeln Staus zu vermeiden. Wie geht das?
Das ist ein völlig anderer Ansatz als üblich. Momentan sind Ampeln für typische Verkehrslagen programmiert – zum Beispiel hohes Verkehrsaufkommen am Morgen und am Abend. Man versucht, periodische Steuerungen zwischen den Kreuzungen zu synchronisieren. Doch das System funktioniert nicht optimal, weil die Verkehrsflüsse stark variieren. Als Ausgleich versucht man nun, die Ampeln adaptiv zu schalten, das heißt, Grünphasen werden verkürzt oder verlängert. Damit werden die Möglichkeiten der Koordination allerdings nicht voll ausgeschöpft.
Das meinen Sie aber zu erreichen.
Tatsächlich. Die Flexibilität muss viel größer werden und auch Ereignisse wie Unfälle, Baustellen oder sonstige Komplikationen berücksichtigen können. Das funktioniert nur, wenn Sie eine Art von Selbstorganisation auf lokaler Ebene hinbekommen. Wir kämen auch ohne Verkehrsleitzentrale aus, die Daten in der ganzen Stadt sammelt. Stattdessen kommunizieren unsere Ampeln vor Ort miteinander und mit den Nachbarkreuzungen. Sie registrieren Verkehrsflüsse, machen Kurzzeitprognosen und reagieren entsprechend. Die Koordination breitet sich so über das gesamte Stadtgebiet aus. Das Ziel ist, die Wartezeiten zu minimieren und Behinderungen von Nachbarkreuzungen zu vermeiden. Unsere Simulationen zeigen, dass dieses bewegliche System sehr gut funktioniert. Es dient auch dem öffentlichen Verkehr, der leicht zu priorisieren ist. Die Fußgänger und Fahrradfahrer und die Umwelt profitieren ebenso, denn Schadstoffe und Lärm werden vermieden.
Das hört sich aber nach vielen Sensoren, Prozessoren und nach noch mehr Kosten an.
Überhaupt nicht. Für die Ampelsteuerung heute braucht es teure Infrastrukturmaßnahmen. Es müssen Straßen aufgerissen und Kabel verlegt werden, und es muss eine Verkehrsleitzentrale mit einem Supercomputer eingerichtet werden. Durch die Lokalität unseres Ansatzes reicht im Prinzip eine kabellose Kommunikation ohne eine Zentrale aus. Allerdings geht es hier um einen Paradigmenwechsel. Die klassische Herangehensweise ist eine Steuerung von oben nach unten. Wir führen nun quasi die Basisdemokratie für Ampeln ein.
Besteht das Modell den Praxistest?
Dresden hat zwei simulationsbasierte Pilotstudien durchgeführt. Nun soll in einem Bereich der Alltagstest gemacht werden.