Vor hundert Jahren wurde in Rio der Janeiro die berühmte Seilbahn auf den Zuckerhut eingeweiht. Ein Projekt, von dem viele damals dachten: Das geht doch nie und nimmer!

Rio de Janeiro - Für die Julius Pohlig AG in Köln war es ein fabelhafter Auftrag. Die Firma hatte bisher vor allem Seilbahnen zum Kohle- und Erztransport gebaut, also reine Industrieanlagen, und nun diese wunderbare Bestellung: Eine Schwebebahn auf den Zuckerhut von Rio de Janeiro!

 

Ausgedacht hatte sich das Projekt 1908 der brasilianische Ingenieur Augusto Ferreira Ramos. Er ergatterte die Konzession, gründete eine Firma, orderte die Maschinerie in Köln, stellte 400 Arbeiter ein, die auf den 396 Meter hohen Granitfels kraxelten und tonnenweise Material hinaufhievten. Und als am 27. Oktober 1912 zum ersten Mal die Gondel auf den Morro da Urca schwebte, waren all die widerlegt, die stets gesagt hatten: Das geht doch nie und nimmer!

25 Euro kostet die Fahrt

Der niedrigere, flachere Urca-Hügel ist, heute wie damals, die erste Station der Seilbahn-Fahrt auf den Zuckerhut, die mit zweimal drei Minuten nicht gerade lang und mit 25 Euro nicht gerade billig ist. Aber schon dort, auf 220 Meter Höhe, verharren die Touristen, staunend schauend und die Digitalkameras vor sich haltend: Vor ihnen liegt Rio in all seiner Schönheit. Hier wird das Panorama der Stadt zur gigantischen Fototapete.

Wie ein Amalgam, das kostbarer ist als seine Bestandteile, so sind in Rio de Janeiro Natur und Stadt eine einzigartige Kombination eingegangen. Das Meer, die Berge, der Wald verweben und verflechten sich mit der Stadt, die sich der Topografie harmonisch anzuschmiegen scheint. Von hier oben sieht man das Ganze in seiner Schönheit, nicht das Einzelne in seiner Hässlichkeit: die Bausünden, die Armut, die Brutalität und Härte einer Metropole. Die glitzernde Bucht von Botafogo ist gesprenkelt mit den weißen Pünktchen der ankernden Segelboote; dass der strahlende Strandstreifen immer menschenleer ist, weil sich dort ein Abwasserkanal ergießt, sieht und riecht man hier oben nicht.

Der Papst ist auch schon hoch gefahren

Ein paar Schritte um Imbissbuden und Andenkenläden herumspaziert, und da steht er jäh „in seiner steilen Plötzlichkeit“, wie Stefan Zweig den aufragenden Granitkegel beschrieb, auf den Ferreiras Arbeiter mit ihren Seilen kletterten, um die zweite, 1913 in Betrieb genommene Seilbahn-Strecke bauen. Was Pohlig damals lieferte, hatte sechzig Jahre Bestand. Eine der gelben Holzkabinen von damals steht noch auf der Spitze des Zuckerhutes, neben der Bergstation, die 1972 errichtet wurde. Die Modernisierung damals kam bald einem Neubau gleich. Die heutigen Kabinen fassen 60 Passagiere; im vergangenen Jahrzehnt sind rund sechs, in den neunzig Jahren davor 31 Millionen Besucher hinaufgeschwebt, darunter John F. Kennedy, Papst Johannes Paul II. und Gina Lollobrigida.

Von ganz oben bietet sich nicht nur An-, sondern auch Überblick. Gaspar de Lemos hielt die Meeresbucht, an deren Eingang der Zuckerhut wacht, für eine Flussmündung, als er am 1. Januar 1502 hineinsegelte – daher Rio de Janeiro, Januar-Fluss. Aber hier oben zeigt sich, dass die Bucht den Atlantik fortsetzt. Von hier aus erscheinen die durch Berge und Buchten getrennten Glieder der Stadt organisch miteinander verbunden. Die französische Schriftstellerin Jane Catulle-Mendès prägte 1912 das Wort von der „ville merveilleuse“, der wunderbaren Stadt, das bis heute Rios Werbeslogan ist. Damals wurde es als Prädikatsurteil für die epochale Umgestaltung verstanden, die Rio gerade durchgemacht hatte. Und dass die Parole ausgerechnet 1912 entstand, als die Schwebebahn zu schweben begann, ist alles andere als ein Zufall.

Rio, das Paris der Tropen

Der englische Zivilisationstheoretiker Henry Thomas Buckle hatte im 19. Jahrhundert postuliert, dass Klima und Natur den Fortschritt der Länder bestimmen – eine Lehre, die weite Verbreitung fand und Brasiliens Selbstverständnis veränderte. Die Brasilianer waren bis dahin mit ihrer tropischen Existenz ganz im Einklang; der Krönungsmantel von Kaiser Pedro II. war nicht mit Hermelin, sondern mit Tukanfedern besetzt. Aber die Theorie, dass die tropische Natur ein Entwicklungshemmnis sei, kam der jungen Republik zupass. Nach dem Sturz der Monarchie 1889 wurde der Fortschritt genau zum Symbolprojekt, das ihr zunächst fehlte.

In der Hauptstadt der Republik wurden die Seuchen ausgerottet, Trambahnschienen gelegt, die Hafenanlagen zu den modernsten der Welt ausgebaut. Bald waren die Straßen Rios nachts heller beleuchtet als die von Paris, und in den Parks pflanzte man den Amendoeira-Baum, dessen Blätter im Herbst untropisch abfallen – so weit ging das Nachäffen Europas.

Paris der Tropen, auf diese Bezeichnung sind die Bewohner von Rio bis heute stolz. Sogar einen eigenen Baron Haussmann hatten sie. Für die Neugestaltung der Innenstadt nach Pariser Vorbild ließ Bürgermeister Francisco Pereira Passos an die 2700 Gebäude schleifen. Das koloniale Rio sank in Staub und Schutt, kurz nacheinander entstanden Monumentalbauten wie die Oper, die Nationalbibliothek oder das Nationalmuseum. Hauptachse war die heutige Avenida Rio Branco, deren beide Enden an der Bucht mündeten. Eines davon ist bis heute unverbaut: Die Straßenschlucht zielt genau auf den Zuckerhut. Die Seilbahn auf den bis damals nie bestiegenen Felsen zu bauen – was hätte die Versöhnung der Zivilisation mit der tropischen Natur besser symbolisieren können?