Michelangelo war bereits zu Lebzeiten als Künstler in Italien und Europa ein Star – Nicht nur Bildhauer, sondern auch Maler und Architekt. Und ein sensibler Dichter dazu, dessen Werke an allen Höfen Europas zirkulierten.

Stuttgart - Man schreibt das Jahr 1564. In Rom herrscht Papst Pius IV., der das Konzil von Trient zu Ende geführt hat. Die katholische Kirche will sich reformieren, der Kampf gegen den Protestantismus verschärft sich, und das intellektuelle Klima wird dunkler. Bereits seit 1555 sind die Juden der Heiligen Stadt gezwungen, in einem Ghetto zu leben. Es ist eine Zeit der Brüche und der Widersprüche, am Horizont drohen waffenschlagende Unternehmungen und Glaubenskriege. Das ist keine gute Zeit für die Künste und für die Künstler, die sich in Manierismen flüchten.

 

Und doch hat einer von ihnen das Erbe der Renaissance bis in diese Jahre gerettet: Michelangelo Buonarroti ist dabei, dem neuen Dom der Stadt eine Kuppel aufzusetzen, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Aber dann verlassen den 88-Jährigen die Kräfte.

Es ist drei Uhr nachmittags, als Michelangelo am 18. März des Jahres 1564 für immer die Augen schließt. Bei ihm sind einige Getreue wie Tommaso de’ Cavalieri, vielleicht ein Arzt und sein Diener Antonio. Dem Letzten Willen des Toten entsprechend wird der Leichnam nach Florenz überführt – in einem mit altem Leinen überzogenen Sarg, aus Angst, die Römer würden den berühmten Toten für sich behalten wollen. In Florenz wird Michelangelo mit einer Laternenprozession zur Kirche Santa Croce begleitet, damit Freunde, alte Weggefährten, aber auch die Menschen im Viertel von ihm Abschied nehmen können. Als er aufgebahrt wird, ist Michelangelo bereits seit 22 Tagen tot, doch der Leichnam scheint nicht verwest. Ein Wunder? Ein Beweis seiner Heiligkeit? „Il divino“ – „den Göttlichen“ – hatte Ariost den Maler der Sixtina-Fresken und den Schöpfer des Moses bereits Jahre zuvor in seinem epischen Gedicht „Rolando fuorioso“ genannt.

Nach seinem Tod fand man angeblich 800000 Dukaten

Michelangelo war also bereits zu Lebzeiten als Künstler in Italien und Europa ein Star. Nicht nur Bildhauer, sondern auch Maler und Architekt. Und ein sensibler Dichter dazu, dessen Werke an allen Höfen Europas zirkulierten – später wird sie Rainer Maria Rilke ins Deutsche übersetzen. Er war wohlhabend, sogar reich, der reichste unter den Künstlern. Mit einer für ihn typischen Untertreibung gab Michelangelo an, als Architekt von Sankt Peter für einen Gotteslohn zu arbeiten. Aber er verschwieg, dass ihm der Papst bereits seit Jahren als oberstem Architekten, Bildhauer und Maler des Vatikans ein monatliches Gehalt zahlte, das etwa Tizians Salär am spanischen Hof um ein Vielfaches überstieg. Bei seinem Tod fand man in einer Truhe angeblich 800 000 Golddukaten.

Michelangelo hat sich immer viel aus Geld gemacht. Ohne Bezahlung arbeitete er nicht. Und es kam auch vor, dass er sich für Arbeiten bezahlen ließ, die er nie ausführte oder zu Ende brachte. Er unterstützte mit dem Geld seine verarmten Verwandten in Florenz, sorgte sich in späten Jahren mit Stiftungen um sein Seelenheil, lebte aber selbst anspruchslos in einfachsten Verhältnissen in einer eher heruntergekommenen Gegend Roms am alten Rabenplatz, am Macel de’ Corvi nahe dem Trajansforum, den er mal in einem Spottgedicht beschrieben hat: „Ein Berg von Kot türmt sich vor meiner Pforte. / Wer Trauben aß, wer Medizinen schluckte, / dem dient der Platz hier zur Erleichterung. / Hier lernte ich des Harnes Wasser kennen / und auch ihr Ausflussrohr durch jene Ritzen, / die mich vor Tagesanbruch schon erwecken.“

Was bleibt von solch einem Titanen, ohne den die Kunstgeschichte anders verlaufen wäre und den noch ein Rodin vierhundert Jahre später zum Vorbild nehmen konnte? Der stolze Blick des Davids ist zum „Brand“, zum Wahrzeichen des heutigen Italiens geworden wie das Kolosseum oder der schiefe Turm von Pisa. Doch zerstören nicht Millionen von Besuchern jährlich die Fresken der Sixtina mehr, als dass sie diese wahrnehmen und daraus Erkenntnisse ziehen? Ist nicht alles über diesen Künstler gesagt?

Die Beschäftigung mit dem Universalkünstler hört nicht auf

Der Katalog der Bibliothek der Hertziana in Rom, dem deutschen Exzellenz-Institut für Kunstgeschichte der Max-Planck-Gesellschaft, listet allein 8885 Titel zum Stichwort Michelangelo auf. Und doch, so die Institutsleiterin Elisabeth Kieven, hört die Beschäftigung mit ihm nicht auf. Das gilt etwa für die Gedichte, in denen er   eigene Kunsttheorien formuliert, wenn er „die Form aus dem Stein befreien“ will. Zudem sind die lange vernachlässigten Architekturzeichnungen in den Vordergrund gerückt.

Anfangs hatte man sie nur nach ihrer künstlerischen Bedeutung beurteilt, dann kam die technische dazu. Jetzt ändern sich auch die Fragestellungen und man untersucht die Zeichnungen in ihrer Rolle als Medium: Was erfahren wir in ihnen über Michelangelo, der gleichsam mit der Zeichenfeder denkt?

Auch die Deckenfresken der Sixtina, die seit der Reinigung zwischen 1982 und 1994 farbenprächtig leuchten, reden über den Künstler. So griff der Schriftsteller Mauro Covacich vor ein paar Tagen im „Corriere della Sera“ die These auf, Michelangelo habe in der Szene der Erschaffung Adams die Gruppe mit Gott und den Engeln in die Umrissform eines Gehirns hineingemalt. Das sei, so der Schriftsteller, ein deutlicher Hinweis auf eine vom Neoplatonismus geprägte Religiosität. Gott erscheint in Form des Intellekts. Der Artikel hat jetzt in Internet-Blogs eine Debatte ausgelöst, ob man Mitte des 16. Jahrhunderts überhaupt schon die heute gültige Form des Gehirns kannte. Vermutlich hat Covacich hier überinterpretiert. Jedoch ist Michelangelos Hinneigung zu dem vom Vatikan bekämpften Neoplatonismus gesichert. Spuren finden sich etwa im Schriftwechsel mit der von ihm hochverehrten Dichterin Vittoria Colonna.

Ein Künstler, der immer wieder seine Pläne ändert

Gegenwartskünstler fasziniert das „non finito“, das Halbfertige, das sich in immer wieder geänderten Plänen des Julius-Grabmals oder den Statuen ausdrückt, die Torso geblieben sind wie die Pietà Rondanini. Oder auch in den vielen Zeichnungen nie ausgeführter Projekte. Wenn Mauro  Covacich sich Michelangelo gleichsam träumerisch nähert, dann sieht er Kolossalfiguren in einer „Vor-Hollywoodmanier“, die einen Bogen schlagen bis zur Arbeit von Marc Quinn, der in Venedig auf der vergangenen Kunstbiennale eine acht Meter hohe aufblasbare Statue in Form einer schwangeren Frau mit verstümmelten Gliedmaßen präsentiert hatte.

Wer wie Michelangelo seit Jahrhunderten vergöttlicht wird, ist aber auch vor Entweihung nicht sicher. Lynn Catterson von der Columbia University New York hat gerade behauptet, der Künstler konnte mit seinen regulären Aufträgen niemals so reich werden, wie er geworden ist. Das Geld habe er sich durch massenweise heimliche Fälschungen von Statuen erworben, die heute als antike Arbeiten gelten – bis hin zur Laokoon-Gruppe des Vatikans. Michelangelo als Fälscher und der Papst als Hehler? Es ist nicht alles Gold, was von Amerikas Universitäten kommt.

Das Jahr 1564 bedeutet Ende und Anfang. Wenige Tage vor Michelangelos Tod in Rom kommt in Pisa am 15. Februar Galileo Galilei zur Welt. Die Geschichte wird ihn als Helden und Märtyrer der Wissenschaften beschreiben. Aber auch als mathematischen Eigenbrötler. Als einen, der seine guten Manieren vergaß, wenn jemand in der Diskussion mit ihm nicht seiner Meinung war.

Die Nachwelt liebt solche griffigen Bilder von großen Menschen. In einer gerade veröffentlichten Biografie von John L. Heilbron über Galilei kann man lesen, dass der Pisaner ein durchaus vielseitiger Gelehrter war. Philosoph vor allem und Mathematiker allein des Broterwerbs wegen. Ein begnadeter Musiker, ein Künstler und Dichter ebenso. Ein Humanist wie Michelangelo. Einer, der die Schöpfungsgeschichte in die Welt der Wissenschaften übertrug. Was dem einen die Decke der Sixtina war, wurde dem anderen der bestirnte Himmel.