Der Schütze, der am 5. Februar 1989 als letztes Maueropfer Chris Gueffroy erschossen hatte, wurde wegen Totschlags zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Die Urteile gegen andere Mauerschützen fielen meist milder aus, Bewährungsstrafen zwischen sechs Monaten und zwei Jahren waren die Regel, wobei die Richter das jugendliche Alter der Schützen, die politische Indoktrination und die zumeist lange zurückliegende Tat berücksichtigten. Die Strafen für die Kommandeure und Chefs der Grenzbrigaden waren aber zumeist härter. Mit einer Grundsatzentscheidung vom 3.November 1992 hatte der Bundesgerichtshof die Linie für die weitere Rechtsprechung vorgegeben. Zwar habe das positive Recht im Konflikt zwischen Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit Vorrang, wenn aber das geltende Recht im Widerspruch zur Gerechtigkeit "ein unerträgliches Maß erreicht", dann müsse das Gesetz als "unrichtiges" Recht der Gerechtigkeit weichen. Zudem stehe die Versagung der Ausreise im Widerspruch zu internationalen Bestimmungen, die auch die DDR unterzeichnet habe. Einen Verstoß gegen das grundgesetzlich verankerte Rückwirkungsverbot konnte der Bundesgerichtshof nicht erkennen. Er wurde vom Bundesverfassungsgericht 1996 bestätigt.

 

Honecker wurde laufen gelassen

Das Interesse der Öffentlichkeit richtete sich vor allem auf die Verfolgung der militärischen und politischen Elite. 1992 wurden sechs Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates angeklagt: Erich Honecker, Erich Mielke, Willi Stoph, Heinz Kessler, Fritz Strelitz und Hans Albrecht. Sie alle waren bis zuletzt im Amt. Doch schon bald mussten die Verfahren gegen Stoph und Mielke aus Gesundheitsgründen abgetrennt und dann eingestellt werden. Das löste bei vielen ehemaligen DDR-Bewohnern Enttäuschung aus. Geradezu kurios entwickelte sich das Verfahren gegen Erich Honecker. Der Verteidigung gelang es, den Eindruck zu erwecken, der frühere Staatsratsvorsitzende sei todkrank, es verstoße gegen die Menschenwürde, weiter gegen ihn zu verhandeln. In einem undurchsichtigen Verfahren beschloss der Berliner Verfassungsgerichtshof, Honecker laufen zu lassen. Er durfte nach Chile ausreisen. Das Verfahren gegen die übrigen Angeklagten endete im September 1993. Kessler und Strelitz wurden wegen Anstiftung zum Totschlag zu siebeneinhalb bzw. fünfeinhalb Jahren verurteilt. Albrecht erhielt dreieinhalb Jahre. In den sogenannten Politbüro-Prozessen verurteilte das Berliner Landgericht im Sommer 1997 Egon Krenz zu sechseinhalb Jahren, Günter Schabowski und Günther Kleiber zu je drei Jahren Haft. Nur Schabowski zeigte Reue.

Die rasche Begnadigung durch den Berliner Senat löste Kopfschütteln aus. Egon Krenz, der von seiner Strafe nicht mal vier Jahre verbüßte, hörte gleichwohl nicht auf, von "Siegerjustiz" zu reden. Davon konnte keine Rede sein. Denn die Strafen fielen relativ milde aus, und der Justiz war gelungen, die Rechtsfigur der unmittelbaren und mittelbaren Täterschaft auf alle Angeklagten anzuwenden und damit der Gerechtigkeit so weit als möglich nahezukommen.