„The Artist“ siegt gegen „Hugo Cabret“, der Franzosen Michel Hazanavicius gegen den US-Altmeister Martin Scorsese: die Oscarnacht war voller Überraschungen

Kultur: Tim Schleider (schl)

Los Angeles - Das war ein Showdown im Kodak Theatre zu Los Angeles, wie es sich nur Hollywood ausdenken kann. Zwei große Favoriten stehen sich in der Oscarnacht gegenüber, beide aus der Abteilung Filmkunst: hier „Hugo Cabret“ von Martin Scorsese, elf Nominierungen, dort „The Artist“ von Michel Hazanavicius, zehn Nominierungen. Und beide sind große, kluge, vielschichtige Liebeserklärungen an die Ursprünge des Kinos.

 

Der Amerikaner Scorsese erzählt eine Geschichte aus dem alten Paris, dem Geburtsort des Kinos. Der Franzose Hazanavicius erzählt eine Geschichte aus dem alten Hollywood, der Traumfabrik des Stummfilms. Der eine dreht mit allen technischen Finessen in 3-D. Der andere beinahe stumm und in Schwarz-Weiß.

Was bei Scorsese beginnt wie eine Kinderabenteuergeschichte mit starken Fantasy-Anleihen, wird schließlich zur Hommage an einen der großen Pioniere des Kinos, an den französischen Regiemeister Georges Méliès, dessen rekonstruiertes kleines Meisterwerk einer Mondexpedition Scorsese in seinen Film als Original einbaut. Und was bei Hazanavicius beginnt wie ein melodramatisches Schwelgen im Artifiziellen des sprachlosen Films, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als tiefe Verbeugung vor den Altmeistern des Weltkinos, vor Charles Chaplin und Harold Lloyd, vor Alfred Hitchcock und Orson Welles. Hier der ruhige, intellektuelle Scorsese, dort der frech-forsche Hazanavicius – sie gebärden sich wie zweieiige Zwillinge, befruchtet von der gleichen unbändigen Liebe zur unendlich großen Traumbilderkiste Kino.

Und wie geht der Showdown am Sonntagabend im Kodak Theatre zu Los Angeles aus? Die ersten zwei Stunden der Oscargala gehören Martin Scorsese. Beste Kamera, bester Ton, bester Tonschnitt, beste Spezialeffekte – die ersten Oscars regnen auf „Hugo Cabret“ nur so herab. Es riecht nach einem Durchmarsch. Die Kameras der TV-Gesellschaft ABC stellen sich mehr oder weniger komplett auf Großaufnahmen von jenem Scorsese ein, dessen großes Filmwerk von „Taxi Driver“ über „Kap der Angst“ bis „Gangs of New York“ die American Academy so viele Jahre lang sträflich missachtet hatte.

Jean Dujardin kann grinsen wie George Clooney

Und dann ungefähr zur Halbzeit kippt die ganze Chose. Plötzlich entdecken die rund 6000 stimmberechtigten Mitglieder der American Academy of Motion Pictures Arts and Sciences offenbar ihre Sympathie für die noch größeren Außenseiter aus Frankreich. Für Menschen, deren Namen ein ordentlicher Amerikaner kaum auszusprechen vermag. Für Leute, die bei ihren Dankesreden kaum verständliches Englisch von sich geben.

Für Ludovic Bource beispielsweise – beste Filmmusik –, der eigentlich nur ein kleiner Pariser Undergroundrapper ist, in seiner großen „The Artist“-Komposition aber unerschrocken Johannes Brahms und Bernard Herrmann zitiert. Oder für Jean Dujardin – bester Schauspieler in einer Hauptrolle –, der so cool lächeln kann wie George Clooney, aber noch nicht mal in einer US-TV-Serie aufgetreten ist. Oder wie Michel Hazanavicius selbst, dessen schmutzigen Agentenfilmparodien bisher auf Fantasy-Filmfesten Furore machten. Und der nun plötzlich die Lorbeeren als „bester Regisseur“ des „besten Films“ einheimst. Keine einzige Kamera ist jetzt noch auf Martin Scorsese gerichtet. Rein rechnerisch steht es ausgeglichen fünf zu fünf. Aber real ist es ein Triumph für den französischen Film.

Dies ist die große, spannende Hauptgeschichte einer glanzvollen Oscarnacht. Vieles andere tritt dahinter zurück, obwohl es für sich genommen Stoff für einen eigenen Film wäre. Da ist zum Beispiel Asghar Farhadi. Vor einem Jahr hat der iranische Regisseur mit seinem ganz herausragenden Familiendrama „Nader und Simin, eine Trennung“ den Goldenen Bären in Berlin gewonnen. Nun erringt er gegen hochrangige Konkurrenz den Oscar für den besten nicht englischsprachigen Film. Und erinnert als Vertreter eines Landes, gegen das manche Kreise in Amerika ihren nächsten Krieg führen wollen, an die zugegeben naive Hoffnung, dass kultureller Austausch ein langer, aber erfolgreicher Weg sei, Kriege irgendwann überflüssig zu machen.

Meryl Streep dankt ihrem Maskenbildner

Oder da ist Christopher Plummer, ein Schauspielerurgestein Hollywoods, der nach beinahe unzähligen Filmen und mit 82 Jahren an diesem Abend seinen ersten Oscar erhält: für die bewegende Darstellung eines Mannes, der erst im Alter den Mut zu seinem schwulen Coming-out findet, in Mike Mills Drama „Beginners“.

Und da ist natürlich Meryl Streep. Diese ganz herausragende Schauspielerin war ja durch ihr vielschichtiges Werk längst gleichgezogen mit der Hollywoodlegende Katherine Hepburn. Doch nun stimmt auch die Zahl der Oscars: Für „The Iron Lady“ alias Margaret Thatcher bekommt Streep nach siebzehn Nominierungen ihren dritten Award. Und freut sich in ihrer Dankesrede, so scheint es, am meisten für J. Roy Helland. Mit diesem Maskenbildner arbeitet sie kontinuierlich seit frühesten New Yorker Theatertagen zusammen. „Alle Gesichter, die Sie von mir kennen, hat doch nur er gemacht“, sagt sie dem Publikum in schönstem Understatement. Helland bekommt an diesem Abend auch einen Oscar für „The Iron Lady“, seinen ersten. Und auch er, schnief, ist den Tränen so herrlich nah.

Dass für die Deutschen kein Oscar übrig blieb, weder für Wim Wenders („Pina“) noch für die Kurzfilmer Max Zähle und Stefan Gieren – der deutsche Beobachter kann es verschmerzen. Was in dieser Oscarnacht an Filmkunst ausgezeichnet wurde, ist so international, dass sich jeder Filmfreund ein wenig mitprämiert fühlen darf. Übrigens hat auch Woody Allen (der noch nie zu einer Oscarverleihung gekommen ist) am Sonntag seinen dritten Oscar bekommen – für das Drehbuch zu seiner Komödie „Midnight in Paris“. Mitternacht. In Paris. Wo auch sonst.