Die Geschichte der Kindertransporte, die aktuell Gegenstand einer Ausstellung im Bundestag ist, stößt auf großes Interesse. Die Chancen stehen gut, dass sie auch in Stuttgart zu sehen sein wird, zumal etliche der jüdischen Kinder von hier kamen.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Das Thema 85 Jahre Kindertransporte interessiert auch in Stuttgart. Bei den „Leibinger Begegnungen“, einer Veranstaltung mit knapp 200 Zuhörern am Donnerstagabend im Hospitalhof, erinnerten Ruth Ur, Geschäftsführerin des Freundeskreises Yad Vashem Deutschland, und Andrea Hammel, Professorin an der Aberystwyth University in Wales, an dieses in Deutschland noch immer wenig bekannte Geschichtskapitel. Zehn Monate lang, vom 2. Dezember 1938 an bis zum Kriegsausbruch am 1. September 1939, organisierten Privatleute und Wohltätigkeitsorganisationen meist per Zug Kindertransporte aus dem Deutschen Reich nach England. Rund 10 000 jüdische Kinder entkamen so dem Holocaust. Viele der Eltern, die damals zurückblieben, wurden von den Nazis ermordet.

 

Die Schattenseiten der Rettungsaktion

Andrea Hammel, die auch Autorin des jüngst erschienenen Buches „The Kindertransport: What Really Happened“ ist, verwies im Gespräch mit Moderatorin Adrienne Braun auf die Schattenseiten der Rettungsaktion. „Es war nicht nur die große Heldentat, von der in Großbritannien später immer die Rede war“, sagte die Historikerin. Der Anteil der britischen Regierung habe sich darauf beschränkt, den Kindern Visafreiheit zu erteilen. Die fehlende staatliche Planung und „die inadäquate Vorbereitung“ habe jedoch zu vielen Problemen geführt. So hätten sich die aufnehmenden, meist christlichen Pflegeeltern oft falsche Vorstellungen gemacht. Die Kinder seien ihrerseits großen psychischen Belastungen ausgesetzt gewesen. Einige hätten zudem als billige Arbeitskräfte in englischen Haushalten arbeiten müssen. Es seien auch nur gesunde Kinder für die Fahrt nach England ausgewählt worden. Die Kindertransporte, betonte Hammel, seien in der Regel eine Einbahnstraße gewesen: „Die wenigsten der Kinder sind später nach Kontinentaleuropa zurückgekehrt.“

Der Abend war auch ein Vorgeschmack auf eine mögliche Kindertransport-Ausstellung in Stuttgart. Yad Vashem Deutschland und die Berthold-Leibinger-Stiftung bemühen sich derzeit intensiv darum, die Berliner Ausstellung in die Landeshauptstadt zu holen. Die Chancen dafür stehen offenbar gut, wie Markus Wener, Geschäftsführer der Stiftung auf Nachfrage erklärte. Etliche Zuhörer im Hospitalhof wünschten sich: „Diese Ausstellung soll auch nach Stuttgart kommen“. Ruth Ur, die die Berliner Ausstellung kuratierte, äußerte sich zuversichtlich: „Das werden wir hinbekommen.“

Kindertransporte

Videos
Im Rahmen des Filmprojekts „Fragezeichen – Jugendliche im Gespräch mit Zeitzeugen des Nationalsozialismus“ der Stuttgarter Stolperstein-Initiativen in Zusammenarbeit mit dem Stadtjugendring gibt es zwei Filminterviews mit den ehemaligen Stuttgarter „Kindern“ Henry Kandler und Henry Stern, die beide mit Kindertransporten nach England kamen. Sie sind zu sehen unter: http://frage-zeichen.org/video/henry-stern/ http://frage-zeichen.org/video/henry-kandler/

Mehr über das Projekt mit insgesamt 24 Filmen findet sich hier: http://frage-zeichen.org/ueber-das-projekt/