Wer Bewegung wagt, wird Metropolen auf eine ganz andere Art erleben. Wir haben Berlin mit Laufschuhen entdeckt.

Schon der Begriff löst reichlich Verwirrung aus: Erzählt man jemandem vom Sightjogging, dann klingt das wie "Seitjogging", und es bedarf der Erläuterung, dass man sich hierbei nun keineswegs seitlich trabend durch die Welt bewegt. Nein, Sightjogging ist eine neudeutsche Symbiose zwischen der klassischen Besichtigungstour (Sightseeing) und dem altbekannten Dauerlauf (Jogging) und wird vorwiegend in Großstädten mit signifikantem Geschäftsreiseverkehr praktiziert.

Denn Geschäftsreisende sind die Sightjogger fast allesamt sowie beinahe ausschließlich Männer, die mit knappem Zeitbudget ihre Übungseinheit etwas abwechslungsreicher gestalten möchten. Agnes ist Sightjogging-Guide im Neben- und Stadtführerin im Hauptberuf. Berlin kennt sie längst so gut wie ihre Heimatgemeinde im Mittleren Schwarzwald. Und ab und an läuft sie auch einen Marathon. Das ist schon deswegen kein Nachteil, weil auch unter der Laufkundschaft der eine oder andere geübte Marathonläufer ist.

 

Heute kann Agnes durchtamen. Der 44-jährige Journalist, der sie begleitet, ist kein Marathonläufer, nur mittelmäßig trainiert und mehr an Informationen als an Höchstleistungen interessiert. "Kein Problem", sagt Agnes, gejoggt wird so viel und so schnell, wie der Teilnehmer es mag. Der Kunde ist König und überdies normalerweise allein mit seinem Personal Trainer unterwegs.

Der Journalist hat sich für die Tiergartentour entschieden. Im leichten Laufschritt durchs Grüne, das müsste doch ein Vergnügen sein. Ist es auch, zumindest so lange die Luft reicht und der Geist sich voll und ganz seiner Umgebung widmen kann. Die ist so vielseitig, dass es eine wahre Freude ist, und das liegt keineswegs nur am Tiergarten selbst, sondern auch an Agnes, die ihn mit Leben und Geschichten füllt.

Der Weg führt durch ein Freilichtmuseum, das aus über 90 historischen Gaslaternen besteht, über die Brücke des Landwehrkanals, der hier die Rückseite des Berliner Zoos streift. Zum Denkmal von Rosa Luxemburg, das, obwohl im Westen platziert, 1987 von einem DDR-Künstler gefertigt wurde. Zum Feld der Steine, die aus aller Welt zusammengetragen wurden, hin zur Luiseninsel, die wie ein Blumenparadies inmitten des waldreichen Tiergartens liegt. Dieser wiederum bezieht seinen Namen keineswegs aus der Nachbarschaft zum zoologischen Garten, sondern heißt nur so, weil er den Preußenkönigen einst als stadtnahes Jagdrevier diente.

Das Erstaunliche ist, wie viel man von alledem mitbekommt. Wie gut die Informationen haften bleiben, obwohl man sie im Laufschritt aufnehmen muss. Eine echte Überraschung für den Läufer, wenn auch nicht für Agnes, die darauf hinweist, dass aufgrund der höheren Sauerstoffzufuhr das Gehirn natürlich aufnahmebereiter sei.

Joggen in Berlin

Kurz vor dem Brandenburger Tor ist es vorbei mit der Aufnahmebereitschaft. 35 Minuten Joggen am Stück sind für den mittelmäßig Trainierten genug, weshalb die Frage nach einer etwas intensiveren Betrachtung des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Homosexuellen gerne mit Ja beantwortet wird.

Durchs Regiertungsviertel kann man auch spazieren gehen, und unterhalb der Moltke-Brücke ist nur ganz leichter Dauerlauf angesagt: Schließlich will man nicht enden wie der gleichnamige Generalfeldmarschall, der zur Einweihung seiner Brücke im Sarg über sie getragen werden musste, nachdem er tragischerweise wenige Tage zuvor verstorben war.

Der Journalist bleibt am Leben. Eine Stunde und zehn Kilometer später ist er wieder am S-Bahnhof Tiergarten. Geschafft! Der Körper schüttet Glücksgefühle aus. Auf der Straße des 17.Juni fährt derweil ein Ausflugsbus mit Sightseern vorbei, die ihre Nase an der Scheibe plattdrücken. Stark zu vermuten, dass ihr Gehirn nicht so gut durchblutet wird.

Info: Sightjogging ist Sightseeing für Jogger und kein Sportprogramm für Städtereisende, die zu Hause überhaupt nie laufen. Eine gewisse Grundkondition ist daher nötig. Sightjogging-Berlin bietet vier Touren an (Tiergarten, Mauer, Spree, Geschichte). Individuelle Absprachen über Strecke und Lauftempo sind möglich. Preis pro Stunde abhängig von der Teilnehmerzahl 20 bis 80 Euro pro Person: Telefon 030/7978 98 54, http://www.sightjogging-berlin.de. Die Agentur vermittelt auch Touren in anderen deutschen Städten (http://www.sightjogging-germany.de).

Andere Sightjogging-Anbieter sind zum Beispiel http://www.touristjogging.de in Hamburg, http://www.sightjogging-ffm.de in Frankfurt oder http://www.freiburg-aktiv.de.