Der Terrorchef Osama bin Laden hinterlässt eine zersplitterte Organisation. Mit seinem Tod ist die Anschlagsgefahr längst nicht gebannt.  

Washington -Fast zehn Jahre lang hat die intensive Suche nach dem meistgefürchteten Terrorchef gedauert. Doch nun, da eine US-Spezialeinheit Osama bin Ladens in Pakistan habhaft wurde, hätte der Tod des Al-Qaida Führers kaum zu einem besseren Zeitpunkt eintreten können. Denn seine radikale Ideologie hat in der islamischen Welt entscheidend an Anziehungskraft verloren. Dennoch: Bin Ladens Tod schockiert seine Sympathisanten, wie diese über ihre zahlreichen sozialen Netzwerke zu erkennen geben. Damit steigt zweifellos kurzfristig die Gefahr von brutalen Racheakten einzelner Fanatiker.

 

Der Schlag gegen Bin Laden beschert dem seit dem 11. September 2001 geführten Anti-Terrorkrieg einen entscheidenden Etappensieg, doch er bedeutet noch keineswegs das Ende der Al-Qaida. Ein Nachfolger, der ägyptische Kinderarzt Ayman al-Zawahiri - bisher die Nummer zwei im Netzwerk -, steht längst bereit. Allerdings könnte nun auch für ihn rasch die Falle zuschnappen, möglicherweise haben US-Geheimagenten nämlich wichtige Hinweise auf seinen Verbleib in Bin Ladens luxuriösem Versteck in Pakistan sichergestellt.

Der Tod des Terrorchefs bedeutet aber nicht das Ende der Gewalt, dämpfte auch US-Präsident Barack Obama das Triumphgefühl. Es gebe keine Zweifel, dass Al-Qaida weiter Attacken planen werde. Schlimmer noch: Der Dschihad hat nun seinen offiziellen Märtyrer. Und bin Laden könnte als Gespenst weiter durch die Welt geistern und den Terror schüren. Nur Stunden, nachdem sich die Nachricht von seinem Tod wie ein Lauffeuer verbreitete, drohten Islamisten mit Vergeltung. "Gott verfluche Dich, Obama".

Seit zehn Jahren stetig auf der Flucht vor US-Luftangriffen, konnten Bin Laden und sein Operationschef Zawaheri zunehmend weniger die Terrorfäden ziehen. Immer mehr entglitt dem Herz des Netzwerkes die Planung größerer Gewalttaten, während es sich zugleich zunehmend in die Isolation manövrierte. Aus Sicherheitsgründen konnte die Führungsspitze weder telefonisch, noch per Internet oder andere elektronische Medien mit ihren Anhängern kommunizieren und beschränkte sich fast ausschließlich auf primär über den arabischen Sender Al-Dschasira verbreitete Videobotschaften, die einige Zeit freilich durchaus Propagandawirkung unter frustrierten jungen Muslimen erzielten.

A-Qaida-Zentrale ist seit Jahren geschwächt

Doch die Terrororganisation, auf deren Konto der schreckliche Terrorakt 2001 in den USA ging, ist längst nicht mehr dieselbe. Die lange im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet stationierte Zentrale ist wegen der konstanten US-Luftangriffe seit Jahren empfindlich geschwächt. Die Organisation mutierte zu einem Netzwerk voneinander völlig unabhängiger Zellen, die eigenständig agieren und sich höchstens ideologisch beeinflussen lassen. Wohl prägt Bin Ladens von erbittertem Hass auf den Westen inspirierte Ideologie und seine massenmörderische Strategie das Al-Qaida-Netzwerk weiterhin. Doch agieren die Tochtergruppen gleichsam wie Franchise-Unternehmen mittlerweile eigenständig - allen voran die "Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel" mit Sitz im Jemen, die laut US-Geheimdienst heute zur weitaus gefährlichsten Gruppe aufgestiegen ist, gefolgt von der "Al-Qaida im islamischen Maghreb", die die marokkanischen Behörden verdächtigen, hinter dem Terrorakt in der Vorwoche in Marrakesch zu stehen, bei dem 16 Menschen ums Leben kamen.

Beide Gruppen, wie auch kleinere Zellen, kämpfen aber mit wachsenden Problemen, Anhänger und Aktivisten zu rekrutieren. Denn schon vor Beginn des arabischen Frühlings, der gewaltlosen Rebellion gegen die Diktatoren der Region, stand fest, dass Bin Laden sich nicht zum Sprecher der perspektivlosen arabischen Jugend zu erheben vermochte. Insbesondere die ungeheuren Exzesse der Al-Qaida im Irak fügten dem Ansehen ihres Gründers auch unter der jungen arabischen Generation enormen Schaden zu, von den Älteren ganz zu schweigen.

"Demokratie kann nur nicht-religiös sein"

Die erstaunliche Massenbewegung friedlicher, freiheits- und demokratiehungriger Menschen schaffte in Ägypten und Tunesien in wenigen Wochen, was Bin Laden mit Hilfe blutigen Terrors seit mehr als einem Jahrzehnt zu erreichen suchte: den Sturz der Autokraten. Dies hat die Al-Qaida-Ideologie zumindest in diesem Teil der Welt an den Rand der politischen Szene gedrängt. Der friedliche Kampf um Demokratie, Mitbestimmung und Menschenrechte steht in krassem Widerspruch zu Bin Ladens Lehren und seiner angepriesenen Methodik. "Demokratie, dieses westliche Produkt, kann nur nicht-religiös sein", warnte Zawahiri jüngst nach langem Schweigen der Al-Qaida-Führer angesichts der Turbulenzen in der arabischen Welt - Worte, die die moderne Jugend nicht aufnimmt. Dies war der letzte Beweis dafür, dass Bin Laden den Kampf um die arabische Seele verloren hat.

Dennoch können Al-Qaida-Netzwerke kurzfristig in so manchen arabischen Ländern Boden gewinnen, wenn deren Herrscher, wie vor allem in Libyen, Jemen oder Syrien, ihre Staaten in ein blutiges Chaos schlittern lassen. Gelingt es aber, wenigstens für einige der gravierendsten politischen und sozialen Miseren der Region, den Weg zu einer Lösung zu finden, dann wird Bin Ladens grausige Botschaft mehr und mehr ungehört verhallen.