Michelangelo sezierte Leichen, weil er Körper möglichst natürlich darstellen wollte. Damit schafft er ein Männerbild, das bis heute fragwürdige Folgen hat.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Würde man im Fitnessstudio herumfragen, warum so emsig Bizeps, Trizeps und Sixpacks trainiert werden, würde wohl mancher sagen: Weil der Mann von heute muskulös sein muss. Kaum einer käme dabei auf den Gedanken, dass er im Grunde einem sehr altmodischen Bild nacheifert. Denn die Vorstellung vom Mann als Heros und muskelbepackten Herkules ist sehr, sehr alt – und durchaus fragwürdig.

 

Michelangelo hat das Bild vom Mann als Held geprägt

Männer und Muskeln sind ein Thema für sich. Die Kunstgeschichte ist prallvoll mit Kerlen, die breite Kreuze und Arme wie Keulen haben. Vor allem ihre Bäuche, auf denen sich jeder Muskel wie ein Ei herauswölbt, haben unsere Sehgewohnheiten nachhaltig geprägt. Einer, der dieses Bild des Mannes wie kein anderer in die europäischen Kulturgeschichte eingeschrieben und salonfähig gemacht hat, war Michelangelo (1475 bis 1564). Er wird gern als einer der bedeutendsten Künstler der italienischen Hochrenaissance gefeiert, aber eine Ausstellung in Wien macht nun auch ganz unmittelbar bewusst, wie stark er mit seinen Nackedeis ein Menschenbild prägte, das bis heute in unserer Köpfen herumschwirrt.

„Michelangelo und die Folgen“ nennt sich die erhellende Schau in der Albertina. Denn Michelangelos Männerfiguren setzten Maßstäbe und wurden von Künstlern so emsig nachgeahmt, dass diese Körperideale bis heute lebendig wie eh und je scheinen.

Die Antike schaute entspannt auf Nacktheit

Das Christentum leistete im Mittelalter ganze Arbeit und verleugnete das Leibliche so energisch, dass die Figuren auf Altären und Gemälden oft wie Geistwesen wirken – und nicht wie Menschen aus Fleisch und Blut. Entsprechend groß war die Aufregung, als 1506 bei Ausgrabungen vor Rom die Laokoon-Gruppe entdeckt wurde. Obwohl sie bereits 200 vor Christus im antiken Griechenland entstanden war, wirkten diese mit der Schlange ringenden Männer ungewohnt natürlich, aber auch elegant in ihrer Bewegung. So etwas kannte man von der christlichen Kunst nicht.

Es geht um die Kraft im Manne

Auch Michelangelo pilgerte natürlich sofort zu dem spektakulären Fund und fühlte sich bestätigt, denn er strebte selbst nach natürlicheren Körpern als bis dato gängig. Dazu soll er wie andere Künstler auch Leichen seziert haben, böse Zungen unterstellten ihm sogar, einen Mord begangen zu haben, um an gutes Lehrmaterial zu kommen. In der Wiener Ausstellung sind zwar keine seiner berühmten Skulpturen zu sehen, aber die Zeichnungen und Skizzen vermitteln sehr anschaulich, wie genau Michelangelo die Wirklichkeit in Visier nimmt, um jedes Detail herauszuarbeiten und die Kraft des Körper zu zeigen.

Die Lust an muskulösen Körpern führt zu irrwitzigen Posen

Die Wiener Ausstellung zeichnet nach, wie Michelangelo damit zum Vorbild ganzer Künstlergenerationen wurde, die fortan mit süßer Lust die verrücktesten Körperhaltungen studierten. Bei Raffael hängt ein nackter Jüngling an einer Mauer. Im Manierismus werden die Proportionen kühn verändert und der Ausdruck hemmungslos übersteigert, was zu irrwitzigen Szenen und Posen führt: Cornelis van Haarlem lässt den Riesen Tityos rücklings stürzen, wobei er sein Bein theaterhaft hebt. Hendrick Goltzius pumpte seine Figuren dagegen wie Bodybuilder auf, sodass sie an Michelinmännchen erinnern.

Rembrandt zeigt, wie wir wirklich ausschauen

Und dann kommt Rembrandt – und zeigt der Welt, dass diese Gestalten zwar menschlichen Körpern nachempfunden sein mögen, mit der Wirklichkeit aber herzlich wenig zu tun haben. Es ist die Geburtsstunde des Individuums, denn Rembrandt stellt keine Typen mehr dar, sondern Menschen, die so schön oder hässlich sind wie du und ich. Sein stehender Akt ist kein Held, sondern ein dürres Bürschchen, das vermutlich gerade mit der Pubertät zu kämpfen hat. Und wenn man in das ernste Gesicht des Jungen blickt und seine Haare anschaut, die ohne Talent geschnitten wurden, wird endgültig bewusst, dass die Vorstellung des Helden pure Erfindung ist.

Die Angst vor weiblicher Sexualität ist weit verbreitet

Trotz kunsthistorischer Querverweise vermittelt die Ausstellung in der Albertina, wie eng die Kunst mit gesellschaftlichen Vorstellungen verbunden ist und damit bis in die Gegenwart hineinwirken. In einem Exkurs geht es um den weiblichen Körper, den Kunststudenten bis ins 19. Jahrhundert nicht anhand von Aktmodellen studieren durften, sodass man Gipsmodelle aus der Antike kopieren musste.

Die Angst des Christentums vor weiblicher Sexualität lässt sich also auch der Kunst ablesen – und klingt sogar noch bei Egon Schiele an, mit dem die spannende Schau endet: Bei ihm tragen die nackten Frauen ihre Sexualität provozierend zur Schau. Körper ist bei Schiele nun mit höchstem Unbehagen verknüpft, auch sich selbst zeigt er abgemagert und mit Abscheu vor dem eigenen Leib. Wer weiß, ob es letztlich auch an der Schonungslosigkeit der modernen Kunst liegt, wenn heute wieder Michelangelos Körperideal nachgeeifert und das ungeliebte Individuelle zur Not auch mit dem Skalpell getilgt wird.

Fleischbeschau

Ohne Haut
Schon im 16. Jahrhundert wollten es Künstler ganz genau wissen und stellten Menschen ohne Haut dar – ob gemalt oder als Skulptur. Der Fachbegriff: Ècorché.

Normen
Wie soll der ideale Mensch ausschauen? 1683 griff der Hofkupferstecher von Ludwig XIV zum Maßband und gab eine Serie heraus: „Die Proportionen des menschlichen Körpers“, die er von den idealen Maßen antiker Skulpturen ableitete.

Ausstellung
„Michelangelo und die Folgen“ ist bis 14. Januar in der Albertina Wien zu sehen und täglich geöffnet von 10 bis 18 Uhr, Mittwoch und Freitag bis 21 Uhr. adr