Der Autor und Regisseur Alexander Kluge folgt in seinem neuen Buch dem Weltgeist auf populären Pfaden und blickt von den Schultern King Kongs aus in die Geschichte.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Mancher Chronist pinselt das Bild des Ganzen von einem erhabenen Ort aus. Je weiter der ins Auge gefasste Horizont, desto mehr verschwinden die Details. Zu Füßen liegt die Geschichte in groben Zügen. Umgekehrt verfährt der Fragmentist. Er geht vom Einzelnen aus. Wie ein Mosaikkünstler setzt er Bruchstücke in eine Ordnung, die über den versprengten Zufall hinausweist, auf dem sie gründet. Auch der Fragmentist kennt eine Form des Erhabenen, es ist die des Trümmerbergs. Oder er steigt wie Alexander Kluge in seinem neuesten Buch auf die Schultern King Kongs, um von dort zurück in die evolutionäre Frühgeschichte zu spähen oder vorwärts bis ans Ende der Zeiten.

 

In „Kongs großer Stunde“ beschwört der Filmemacher, Gefühlskraftwerker und Trümmer-Chronist noch einmal jene magischen Kräfte der Korrespondenz, die ihn zum bekanntesten unter den unbekannten Autoren gemacht haben, wie sein Altmeister-Kollege Hans Magnus Enzensberger einmal bemerkt hat. Das Chaos von Anekdoten, Gedanken, Gesprächsfetzen, Beobachtungen, Nachrichten und Erfindungen bändigt er zu einer Zusammenhangskunde über den Zustand der Welt. Wie ein „Zirkusdirektor des Zufalls“ – mit diesem Titel belegte Walter Benjamin ein ihm bekanntes Mitglied des Bauhauses: „Vollendet sei dessen Kunst dann“, zitiert Kluge, „wenn die Zufälle sich noch ganz in ihrem wilden oder halbwilden Zustand befänden und doch dem Gesetz der Form, das unter der Zirkuskuppel gilt, einfügen.“

Casting Crew zum Tod hin

Was aber ist der entfesselte Großaffe, der hier vorgeführt wird, für ein Geschöpf? Auf jeden Fall ein zusammengesetztes. Die Falten seiner Nase sind eine Keilschrift des Numinosen, Kong ist die Macht, was man liebt zu beschützen, es ist die zerstörerische Naturgewalt im Bauch des Schiffes der Zivilisation, das Zusammenspiel von Göttlichem und Tierischem; wenn der Weltgeist sich populärer Pfade bedient, ist Kong vorbeigetrampelt. Und wer sich darunter beim besten Willen nichts vorstellen kann, sollte sich dennoch nicht abbringen lassen, die Gedankenwildnis dieses Buches zu betreten, denn sie lebt nicht von Abstraktionen, sondern von der Anschaulichkeit, mit der das Konkrete Zeiten und Räume überwuchert.

Wir lernen einen gewissen Dr. Erich Kläde kennen, der es liebt, sich zur Reduktion von Stress im Freien zu entblößen, und dadurch eine Kausalkette in Gang setzt, deren verkehrstechnische Folgen zur Unschuld seiner Entkleidungsgewohnheiten in einem tragischen Missverhältnis stehen. Wir erfahren von den siebzig italienischen Kellnern, die auf der Titanic untergingen und in den abruzzischen Dörfern ihrer Herkunft kinderlose Bräute zurückließen, so dass jene Orte heute verwaist und verwüstet in den Bergen liegen – der Komponist Luigi Nono widmete jenen Stimmlosen der Geschichte ein Lamento. Wir hören von Matrosen, die durch exzessives Rauchen, den permanenten Genuss von Schnäpsen und anderen Ernährungslastern vor der Cholera bewahrt wurden, und begegnen Männern im Wartezimmer eines Urologen – „eine Casting Crew zum Tod hin“.

Opern, die die Ehe retten

Doch erstaunlicher als diese exemplarischen Fundstücke aus dem Zeughaus der Geschichte für sich ist das geheime Band, das sie umschließt, jene subversive Logik der Vergesellschaftung, die auf die Gesetze der Verwandtschaft auch dort pfeift, wo es um familiäre Beziehungen im engeren Sinn geht. So stößt man in einem um die Mutter kreisenden Kapitelkomplex auf eine Folge von Blickverbindungen, die von den Augen des Vaters („kein Fließwasser, ein runder Teich“) über die der Mutter („ihre Stimmungen und Ahnungen waren nicht auf der Höhe ihrer Augen“) zu einer Bindehautentzündung des Sohnes führen, die er sich bei einer Autofahrt mit offenem Verdeck über die Alpen zum Festival in Locarno zugezogen hat. Schon ist man im Film – und bei dem Verdikt über seine Arbeit, er drehe für die Blindenanstalt. „Tatsächlich glaube ich nicht an die ,Macht der Kinobilder‘. Schön wäre es, würde in einem Dunkelraum von vielen Seiten erzählt.“

In „Kongs großer Stunde“ wird von vielen Seiten erzählt. Und natürlich führt einer der unsichtbaren Fäden, an denen der Sammler seine Ideen-Beute aufreiht, durch den emotionalen Darkroom der Oper. Die „Tempel der Ernsthaftigkeit“, wie Kluge, der Hofpoet der Frankfurter Schule, mit Adorno schreibt, sind die einzigen Orte, „an denen gemeinsame und öffentliche Trauer möglich ist“. Und weil sich daran ein weiterer Motivfaden über Reparaturerfahrungen und Arztgeschichten knüpft, findet man eine Liste mit Opernszenen, die eine Ehe retten könnten. Kluges Eltern ließen sich scheiden, hier träumt er von Opern, die Mütter zurückholen und den starren Sinn der Väter brechen könnten.

Schlachtbank der Geschichte

Ein opernvernarrter Archäologe, dessen Grabungsstätten in Syrien der Islamische Staat bedroht, spiegelt Kluges Verfahren im Gegenstandsbereich seiner Profession: „Das Geheimnis liegt in Nebensachen der Aktion, in winzigen Fragmenten. Auch wenn wir ausgraben, finden wir ja selten die ganze antike Gestalt vor, sondern Splitter und Rest, die wir wieder zusammensetzen.“ Was die Schlachtbank der Geschichte zerteilt hat, findet er verstreut in den Stoffen der großen Opern, scharf gestellt durch die Musik: „Narben des Gefühls aus alter Zeit.“

Nicht alle Bruchstücke sind gleichermaßen scharf konturiert. Manches treibt stumpf im Schutt der Zeiten. Einfach weiterblättern. Dann finden sich immer wieder frappierende Korrespondenzen zwischen Tatsachen und Fiktionen. Wenn eine Begebenheit in Wedekinds „Lulu“ Jahre später in einer Beziehungstragödie des Regisseurs Fritz Lang wiederkehrt. Oder in der Notiz aus dem Leben und Sterben des polnischen Offiziers, den Thomas Mann in seiner Novelle „Tod in Venedig“ als Tadzio verewigte: 1940 wurde sein einst als Inbegriff des Schönen geltendes Gesicht von einem russischen Geheimdienstoffizier zerschossen.

Prinzip Boulevard nennt Kluge solche Übergänge. Nicht zu wissen, was Fakt und Wahrheit ist, auch das ist Kong. Mit den Füßen steht er auf dem Boden der Moderne, mit dem Kopf ragt er in den Himmel der Ideen und verteidigt wütend, was er liebt. Nur ein solches Wesen besitzt die ungeheure Kraft, die widerstrebenden Elemente dieses gewaltigen Buches zu einer Einheit zusammenzuzwingen.