Tim Burtons Verfilmung des Klassikers "Alice im Wunderland" baut eine abgründige Fantasywelt in 3-D vor uns auf.

Hollywodd - Was für ein Kopf! Es ist ein wahrer Planet, den die kleinwüchsige Rote Königin, die unduldsame Herrscherin des Wunderlands, da auf ihren Schultern trägt. Nur dass dieser Planet seitlich auswulstet, als quetsche ihn etwas aus der Form, ein Überdruck der Bosheit, die nicht schnell genug durch den befehlenden Mund und die abschätzigen Augen entweichen kann. Die Rote Königin in Tim Burtons 3-D-Film-Variante von "Alice im Wunderland" lässt den Wahn aller Tyrannen Gestalt gewinnen: die Herrscherin hält sich für die Welt schlechtin, und alles, was ihr in den Blick gerät, soll ihr gehören und ihrem Willen folgen.

Alice (Mia Wasikowska), das normale Mädchen, das nach einem Sturz ins Kaninchenloch in einer unnormalen Welt landet, ist gar nicht so verschieden von der Roten Königin (Helena Bonham Carter, deren Körper vom Bildcomputer gründlich überarbeitet wird). Wie in der literarischen Vorlage von Lewis Carroll durchmisst Alice eine Welt der Absonderlichkeiten, der Verdrehungen und Verwindungen des Vertrauten, der Sprachspielereien und Rätsel. Aber immer glaubt sie, das alles sei nur ein Traum, sie fantasiere alles nur zusammen: das eilige weiße Karnickel mit der Taschenuhr, den verrückten Hutmacher (Johnny Depp) mit seiner endlosen Teeparty, die Cheshire-Katze, die sich in Luft auflösen kann, wobei das Grinsen noch ein wenig nachleuchtet, und die blaue Raupe, die an einem Wasserpfeifchen nuckelt und dampfend herumorakelt.

Auch Alice glaubt also, alles rundum gehöre in gewisser Weise ihr. Aber die Königin ist herrschsüchtig, und Alice lässt den Dingen und Wesen ihren Lauf. Man könnte interpretieren, hier träfen zwei Arten des Umgangs mit der eigenen Kreativität aufeinander: eine tyrannische, die jeden Gedanken zum Nutztier degradiert, und eine tolerante, die sich von den eigenen Hirngespinsten sogar in Frage stellen lässt.

Alice ist älter als und war schon einmal im Wunderland


Ein paar Änderungen hat Tim Burton ("Edward mit den Scherenhänden", "Sleepy Hollow") an "Alice im Wunderland" vorgenommen. Alice ist kein Gör mehr, sondern neunzehn Jahre alt. Sie ist nicht zum ersten Mal im Wunderland, auch wenn sie sich an ihren vorigen Besuch nicht erinnern kann. Und sie ist nicht zufällig hier, sondern folgt einer Vorbestimmung. Sie soll, munkeln die Wunderländler, zum Endkampf gegen den Jabberwocky antreten, jenes Ungeheuer, mit dessen Hilfe die Rote Königin jeden Aufruhr unterdrücken und ihre Schwester, die Weiße Königin, am Einmarsch ins Tyrannenreich hindern kann.

Seltsamerweise sind gerade die Umgestaltungen das Uninteressanteste an Burtons Fassung des oft verfilmten und zitierten Stoffes. Die Hinbewegung zum Showdown mit dem Jabberwocky ist ein naiver Versuch, einen Spannungsfaden durch Carrolls Motivdschungel zu ziehen. Aus dem Motiv der Wiederkehr wird wenig gemacht, und die Alterung von Alice dient der Umgehung der Problemzone jeder modernen Carroll-Verfilmung.

Der Autor, mit bürgerlichem Namen Charles Lutwige Dodgson (1832-1898), Lehrer in Oxford, schrieb seine Bücher für kleine Mädchen seiner Bekanntschaft, die er auch gerne fotografierte. Die Beziehung nahm Formen an, die zum Zerwürfnis mit den Eltern führte, und seit Jahrzehnten streiten Psychologen, Literaturwissenschaftler und Leser darüber, ob Carroll ein selig naives Gemüt oder ein kreativer Päderast war. Der misstrauische moderne Blick durchforscht Bücher und Filme um Alice nach Spuren ungehöriger Erotik: dieser Untersuchung ist Burton ausgewichen.

Ein Zauberzoo des Bedeutungswechsels


Trotz der Änderungen funktioniert "Alice im Wunderland", dessen 3-D-Effekte meist auf stille Weise faszinierend sind (etwa wenn der Königinnenkopf in den Zuschauerraum ragt), als quicklebendiger Katalog von Einfällen, als Zauberzoo des Bedeutungswechsels. Denn vor allem darum geht es: dass Worte, Dinge, Lebewesen nicht mehr den Erwartungen gehorchen. Ob nun die Heldin mal baumlang und mal gnomenklein wird oder ob die Zwillinge Dideldum und Dideldei im Versuch des erklärenden Redens immer mehr Verwirrung schaffen: Logik, Strenge und Verlässlichkeit müssen hier Traum, Spielerei und fröhlicher Instabilität Platz machen.

Am schönsten aber wird der Film "Alice im Wunderland", wenn man ihm misstraut. Denn die gute Weiße Königin (Anne Hathaway) ist eigentlich eine gruselig kühle und süßliche Figur. Die Rote Königin und ihre Soldaten entstammen der Welt der Spielkarten, die Weiße Königin und ihre Armee sind Schachfiguren. Hier treten also Glücks- und Strategiespiel gegeneinander an, und es wird einem plötzlich klar, dass die Weiße Königin eventuell nur die besser planende, eisiger beherrschte Tyrannin sein wird. Es könnte gut eine Fortsetzung geben, in der sich Alice der gar nicht mehr netten Weißen Königin stellen muss.

Filmstart
Ab Donnerstag in Cinemaxx Mitte und SI, Gloria, Ufa, OF Corso (ab 12 Jahren)

Hintergrund: Die bsiherigen Verfilmungen des Märchenstoffs


Klassiker
Die erste Verfilmung von "Alice im Wunderland" liegt weit länger zurück als Walt Disneys Zeichentrickversion von 1951. Schon im Jahre 1903 haben die Briten Cecil M. Hepworth und Percy Stow sich des Stoffes angenommen: 12 Minuten dauerte ihr Film.

Restauration
Wie viele Werke der Stummfilmära galt auch "Alice in Wonderland" lange als unwiederbringlich verloren. Nur Fetzen schienen überdauert zu haben. Dem British Film Institute (BFI) aber ist die Restauration einer neuneinhalbminütigen Fassung gelungen.

Netzkino
Auf Youtube ist "Alice in Wonderland" nun wieder zu sehen: ein fröhlicher, sich für Menschen in Hasenkostümen nie schämender, bezaubernder Film. www.youtube.com/watch?v=zelXfdogJbA »