Region: Verena Mayer (ena)

An den Volkshochschulen in Baden-Württemberg finden pro Jahr rund 100 Kurse statt, in denen 900 Analphabeten unterrichtet werden. Ginge es in dieser Größenordnung weiter, würde es 1000 Jahre dauern, bis alle funktionalen Analphabeten einen Kurs besucht hätten. Das ist natürlich Quatsch, mit h. Deshalb, so sieht es die Kampagne des Landes vor, warten die Lehrer künftig nicht mehr auf ihre Schüler, sondern suchen sie – und zwar an ihrem Arbeitsplatz. Immerhin haben 57 Prozent aller Analphabeten einen Job. Geht das Konzept mit dem freundlichen Namen Arobi auf, gibt es in möglichst vielen Betrieben sensible Vorgesetzte, die verschämte Mitarbeiter für eine zweite Chance und damit einen Arobi-Kurs begeistern können, der optimalerweise während der Arbeitszeit stattfindet. Vielleicht beteiligen sich die Unternehmen sogar an den Kosten. Arobi steht für arbeitsplatzorientierte Grundbildung.

 

Alphabeten haben von Analphabeten zum ersten Mal bewusst in den 70er Jahren hören können. Mit der Einführung neuer Technologien und Maschinen veränderten sich auch einfache Tätigkeiten so, dass illiterate Arbeiter sozusagen enttarnt wurden. Dass es sich dabei nicht um Einzelfälle handelt, sickerte nur langsam ins Bewusstsein der Politik. Wie die Erkenntnis, dass das Nicht-lesen-und-schreiben-Können nicht nur für die Betroffenen tragisch ist. Weil Analphabeten zumeist sehr viel Energie darauf verwenden, ihre Unfähigkeit zu verstecken, fehlt diese Energie für eine sinnvollere und produktivere Arbeit. Unternehmer reden von einem immensen volkswirtschaftlichen Schaden. Außerdem interessieren sich Analphabeten weniger für politische Zusammenhänge und engagieren sich weniger in Ehrenämtern. Wer einmal in der Kaste steckt, in der soziales und kulturelles Kapital rar sind, Schwierigkeiten in der Schule ignoriert oder durch Mogeln kaschiert werden, kann ihr nur sehr schwer entkommen. Einmal abgehängt, immer abgehängt.

Die Übungen, die Melanie Bella ihren Schülern verordnet, sind höchst unterschiedlich. Eine soll Buchstaben, die ein imaginärer Sturm durcheinandergewirbelt hat, sortieren. So dass aus zwei S, einem E, einem K, einem I und einem N ein Kissen wird. Einer soll alle Worte markieren, die mit kr oder tr beginnen. Krieg zum Beispiel oder trinken. Eine lauscht einer Stimme aus dem Computer, der ihr das Wort Tomate zur fehlerfreien Niederschrift diktiert. Und noch ein anderer übt, ein scharfes S von einem weichen zu unterscheiden. Dass oder das?

Drei Euro kostet eine Unterrichtsstunde

Alphabetisierungsklassen sind immer sehr heterogen. Weil jeder Schüler einen unterschiedlichen Wissensstand hat. Melanie Bellas aktuelle Klasse in der Ostendstraße ist allerdings extrem heterogen. Vor wenigen Wochen wurden die Fortgeschrittenen mit den Anfängern vereint, weil ein spezielles Zuschussprogramm ausgelaufen ist. Wer das paradox findet, findet es wahrscheinlich auch widersprüchlich, dass Kursleiter wie Melanie Bella nur auf Honorarbasis beschäftigt werden. Wenn es gut läuft, gibt es pro 45 Minuten Unterricht 25 Euro, Vorbereitung inklusive. Dass zugleich Lehrer wie Melanie Bella so begehrt sind, dass die 39-Jährige auch noch einen Alphabetisierungskurs in Offenbach leitet, ergänzt dieses seltsame Bild auf beschämende Weise. Dabei ist es wohl eine logische Weise: Bekämen die Lehrer mehr Geld, würden die Kurse teurer. Wären die Kurse teurer, würden sie sich womöglich noch weniger Analphabeten leisten. Drei Euro kostet eine Unterrichtsstunde. Macht bei zweimal zwei Stunden pro Woche 240 Euro pro Semester. Das ist zwar so günstig, dass die Volkshochschule daran keinen einzigen Cent verdient, für die meisten Schüler hier aber trotzdem sehr viel Geld.

Mal fragen, wie Cordula Löffler all das findet? Cordula Löffler ist Professorin an der Pädagogischen Hochschule Weingarten und leitet dort unter anderem den Studiengang Alphabetisierung und Grundbildung. Er wurde vor sieben Jahren eingerichtet und ist so einzigartig, dass die Studenten sogar aus Österreich anreisen. Trotzdem sind es nicht mehr als fünf pro Semester. Die berufsbegleitende Ausbildung kostet 1000 Euro pro Semester. Bis die wieder drin sind, das dauert. Eine Teilantwort von Cordula Löffler geht darum so: „Es ist sehr ärgerlich, dass Bund und Länder nicht dafür sorgen, dass die Alphabetisierung im Bildungssystem verankert ist.“