Ein Freier Wähler schlägt sich in der ARD-Talkrunde am Sonntagabend wacker – aber entkräftet den Hauptvorwurf gegen Hubert Aiwanger nicht.

Hat die politische Kultur durch die Flugblatt-Affäre um Hubert Aiwanger, dem Freie-Wähler-Chef und stellvertretenden Ministerpräsidenten von Bayern, nun Schaden genommen? Sind rote Linie überschritten worden? Bei der Talkrunde von Anne Will am Sonntagabend in der ARD war die Aufstellung der Gäste vier gegen eins – eine Mehrheit von Kritikern stand einem einzigen Aiwanger-Versteher, dem Freie-Wähler-Fraktionsvorsitzenden in Bayern, Florian Streibl, gegenüber. Aber Streibl, den Anne Will mit großzügiger Redezeit bedachte, schlug sich wacker. Er heimste im Lauf der Sendung gar ein Lob vom „Süddeutschen“-Redakteur und Aiwanger-Berichterstatter Roman Deininger für eine „klasse Rede“, die er, Streibl, über den Rechtsstaat und gegen Antisemitismus im bayerischen Landtag gehalten hatte: „Wäre das eine Rede von Aiwanger gewesen, dann wären viele Fragen beantwortet.“

 

Bierseligkeit statt Reue

Viele Fragen sind aber noch unbeantwortet. Zum Beispiel, die wie, es weitergeht. Handlungsbedarf ist noch da, das gestand selbst Florian Streibl ein: „Es gab Verletzungen und Irritationen bei den jüdischen Gemeinden, die müssen ausgeräumt werden.“ Er, also Aiwanger, „wird da was machen“. Angesetzt ist nun ein Gespräch mit Josef Schuster vom Zentralrat der Juden in Deutschland. Aber warum ließ sich Aiwanger eigentlich „im Bierzelt feiern“, so Anne Will, anstatt Reue und Demut zu zeigen, wie es auch Josef Schuster sich gewünscht hatte? „Das Bierzelt ist kein Beichtstuhl“, entgegnete Streibl. Auch sei es jetzt mitten im Landtagswahlkampf nicht opportun, dass Aiwanger beispielsweise zur Gedenkstätte Jad Vashem fahre, das würde als Wahlkampfmanöver gedeutet und geschehe besser zu einer Zeit, wenn „Missdeutungen“ nicht mehr möglich seien. Im übrigen kenne er den Aiwanger seit 15 Jahren, da sei bei ihm nie etwas von Antisemitismus oder Fremdenhass gewesen.

Entschuldigt für was?

Den Reigen der Kritiken eröffnete die Publizistin Marina Weisband auf bissige Weise, Aiwangers Schweigen anklagend: „Wofür hat sich Aiwanger eigentlich entschuldigt? Er sagt es nicht!“ Aiwanger behaupte, die Sache mit dem antisemitischem Flugblatt sei ein großer Wendepunkt in seinem Leben gewesen, gleichzeitig aber will er das meiste darüber vergessen haben. Sie frage sich heute, wer dieser Mann eigentlich sei, der sich jetzt zur Wahl in Bayern stelle, „wie geht er mit faschistischen Werten um?“ Am schlimmsten aber sei Aiwangers Behauptung gewesen, dass die Shoa gegen ihn instrumentalisiert werde. „Wie schmerzhaft muss das für die Opfer der Shoa sein“, fragte Weisband.

Frage nach politischem Anstand

Nicht ein mögliches Verhalten als 17-jähriger, aber sein Umgang mit der Affäre heute war der Hauptkritikpunkt in der Sendung. Wobei niemand am Festhalten von Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) an Aiwanger offene Kritik übte. „Angesichts der Datenlage ist es richtig, dass der Mann noch im Amt ist“, sagte die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff, ihre weiteren Ausführungen über Aiwanger aber waren vernichtend: Der habe eine Doppelstrategie benutzt, er habe seine eigene Rolle in der Affäre heruntergespielt und gleichzeitig eine „Schmutzkampagne“von anderen gegen sich behauptet. Der ursprüngliche Vorfall – das Auffinden eines antisemitischen Flugblatts in seinem Schulranzen – werde da zur „Lästigkeit“, und sei gar nicht mehr das eigentliche Übel: „Das ist problematisch, es lässt politische Tugenden wie Anstand und Verantwortungsbewusstsein vermissen.“ Was Aiwanger getan habe, den Vorwurf gegen sich umzumünzen mit Vorwürfen an den politischen Gegnern, das sei eine „Strategie der Rechtspopulisten“. Mal abgesehen von Aiwanger, diesen Trend – die Täter-Opfer-Umkehr – habe es schon immer gegeben, aber in seiner jetzigen Stärke sei er neu.

Die Rede vom „blöden“ Flugblatt

Beschädigt worden durch die Affäre seien alle Beteiligten: Das war einhellige Meinung in der Sendung, und Günther Beckstein (CSU), Ex-Ministerpräsident in Bayern, verstieg sich einerseits zu dem wunderlichen Begriff, dass bei Aiwanger gefundene Flugblatt sei „unendlich blöd“ gewesen – wo Florian Streibl es bereits als „scheußlich“ eingestuft hatte – bescheinigte Hubert Aiwanger allerdings auch ein Versagen auf der ganzen Linie: Dessen Umgang mit der Affäre sei „alles andere als vernünftig und professionell gewesen“. Seine Entschuldigung sei nicht eindeutig gewesen, „ein Herumgeeiere – nicht überzeugend“. Sowohl Aiwanger, aber auch „Bayern insgesamt“ habe durch die Sache einen Ansehensverlust erlitten.

Anne Will kritisiert „Süddeutsche“

Aber selbst das Medium, das die Flugblatt-Affäre zuerst aufgegriffen hatte, die Süddeutsche Zeitung stand in der Talkrunde nicht in der Heldenrolle da. Sie musste sich von Anne Will fragen lassen, ob sie in ihrem ersten Bericht, der sich auf anonyme Quellen stütze, auch wirklich „sauber gearbeitet“ habe: „Sie hatten anonyme Quellen, aber keine Belege, keine eidesstattliche Erklärung“, hielt Anne Will dem „Süddeutschen“-Redakteur Deininger vor. Man habe 20 Quellen geprüft und Aiwanger dreimal mit den Vorwürfen konfrontiert und um eine Stellungnahme gebeten, entgegnete Deininger: Der erste Artikel sei zwar in der Tonalität „daneben“ gelegen, aber die rechtlichen Voraussetzungen für eine angemessene Verdachtsberichterstattung seien voll erfüllt gewesen. Hätte Aiwanger früh glaubhaft gemacht, dass sein Bruder das Flugblatt verfasst hatte, so Deininger, „dann hätten wir nichts veröffentlicht“. Auf die Frage – ob die „Süddeutsche“ vielleicht jegliche Berichterstattung so kurz vor der Landtagswahl hätte unterlassen sollen – antwortete aber selbst der Aiwanger-Parteifreund Streibl überraschend eindeutig: „Ich denke schon, dass berichtet werden muss.“ Auch den Vorschlag von Deininger, ob man sich hier im Studio nicht auf den Konsens einigen könne, dass die von Aiwanger vorgelegte „Verschwörungstheorie“, die Flugblatt-Sache sei eine von langer Hand geplante Kampagne, um die Grünen an die Regierung zu bringen, nicht ein großer „Schmarren“ sei, lehnte Streibl nicht eindeutig ab.

„Er ist kein Antisemit“

Für Deininger, der nach eigenem Bekunden früher große Stücke auf den volkstümlichen Aiwanger hielt und ihn trotz vieler Entgleisungen verteidigte, ist mit der Flugblatt-Affäre ein Wendepunkt erreicht. Aiwanger sei kein Antisemit, aber es führe eine direkte Linie von seiner Erdinger Rede („Müssen uns die Demokratie zurückholen“) zu seinem Verhalten nach Aufdeckung der Vorwürfe: Aiwanger lasse jegliche demokratische Reife vermissen, man könne mit einem 17-Jährigen milde verfahren, aber ein 52-Jähriger müsse streng beurteilt werden: Ein Mann in einem Staatsamt müsse für die Werte des Gemeinwesens einstehen.

Pöbeln ja, aber angemessen

Welchen Schaden nun die Politik erfahren hat – das wurde in der Talkrunde gestreift. Man müsse nicht nur auf Aiwanger sehen, hieß es. Allgemein gebe es die Tendenz, dass der politische Gegner zum Feind erklärt und auf ihn „eingehämmert“ werde, so die Politologin Deitelhoff. „Bitte angemessen anpöbeln“, meinte sie. Etwas anderes vertrage die Demokratie nicht. Der Freie Wähler Streibl sah das ähnlich: Es gebe eine „Kultur des Schlechtredens“ , es werde über den politischen Gegner geschimpft und „immer mit dem Finger auf die anderen gezeigt.“ Eine Art Konsens war da im Studio dann doch unüberhörbar.