Unsere Kolumnistin Sibylle Krause-Burger erzählt von einer politisch brisanten Begegnung über den Wolken.

Stuttgart - Etwas Seltsames ist mir in diesen vorweihnachtlichen Tagen widerfahren. Dabei war zunächst alles wie gewohnt. Die Schneeflocken tanzten vor meiner Fensterscheibe. Graue Wolken zogen vorüber. Es roch nach Zimtgebäck und dem Tannenduft des Adventskranzes. Aber plötzlich brach etwas Unwirkliches in diese Idylle ein. Ein Wolkenpolster näherte sich, auf dem sich zwei Konturen ausmachen ließen. Es dauerte ein Weilchen, bis ich genau sah, was und wer da herbeidriftete.

 

Tatsächlich, es waren die Schatten meiner von den Nazis ermordeten engsten Verwandten, meiner Großmutter Thekla und ihres Sohnes Günter, ursprünglich zwei waschechte Berliner und auch begeisterte Deutsche. Letzteres hat Adolf Hitler, der Jahrtausendverbrecher, ihnen gründlich ausgetrieben, bevor er sie in ihr schreckliches Schicksal schickte.

Vorbei, vorbei, und nie wieder gutzumachen.

Die beiden auf der Wolke sind über alles Gegenwärtige vorzüglich informiert

Aber nun, in diesem Moment, sah ich sie doch tatsächlich auf ihrer Wolke sitzen und auf die Erde herabschauen, die sie schon so lange verlassen hatten. Trotzdem waren sie über alles Gegenwärtige vorzüglich informiert. Ich hörte, wie sie sich unterhielten, erst ganz entfernt, aber dann doch verständlich: „Hast du das gesehen, bei der letzten Wolkenrunde über unserem geliebten Berlin?“, fragte Thekla ihren Sprössling, „den antisemitischen Aufruhr dieser merkwürdigen Leute da am Brandenburger Tor und am Hauptbahnhof? Geht das schon wieder los? Sie haben uns doch vertrieben, rausgeschmissen und viehisch umgebracht. Wir sind tot – ich nackt in die Grube geschossen, du in Auschwitz vergast –, was wollen die noch? Woher dieser Hass?“

„Reg dich nicht auf, Thekelchen“, meinte Günter, „das sind ganz andere Judenfeinde als die, welche wir kennen. Die von damals, die urdeutschen, gibt es zwar auch noch, und nicht zu knapp. Stell dir vor, da sagte doch neulich tatsächlich eine durchaus gebildete Frau, und ich habe es bis hier oben gehört: Wir wären zwei Jahrtausende lang verfolgt worden, und das hätte sicher seinen guten Grund.“

„Und ich habe die Meinung eines Professors vernommen, der die ewig gleichen Vorurteile von sich gab und wieder mal behauptete, die Juden wären einfach anders, selbstsüchtiger, verschlagener, raffgieriger. In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts hätten sie sich zu alledem auch noch richtig mausig gemacht. Das konnte man sich in Deutschland doch nicht bieten lassen.“

Das Bemühen dem Bösen der Nazizeit etwas absolut Gutes entgegenzusetzen

„So ist das, Thekelchen, das sitzt in den Leuten, ganz tief drinnen. Aber am Brandenburger Tor, wo sie ein Tuch mit aufgemaltem Davidstern und israelische Fahnen verbrannten, hatten sich noch ganz andere Menschen versammelt. Sozusagen eine kampfbereite Verstärkung des eingewachsenen deutschen Vorurteils.“

„Du meinst Flüchtlinge, Migranten, Neueinwohner aus arabisch sprechenden Gebieten? Palästinenser? Ja, die vor allem, die sah man, und man hörte sie dort auch ihre antisemitischen Parolen herausschreien, und das just in dem neuen Deutschland, dessen Kanzlerin das Existenzrecht Israels zur deutschen Staatsräson erklärt hat.“

„Ja, Thekelchen, die meine ich. Und das ist doch der blanke Wahnsinn. Ausgerechnet diese Angela Merkel – gewiss in dem Bemühen, dem absolut Bösen aus der Nazizeit nun etwas absolut Gutes entgegenzusetzen – hat die Grenzen der Bundesrepublik für eine Masseneinwanderung aus arabischen und muslimisch bestimmten Gebieten öffnen lassen. Es sind Hunderttausende, die nun hier leben, darunter viele, die den Hass gegen Juden, wie man heute sagt, in ihrer DNA tragen und ihn in Moscheen predigen. Sie argumentieren gegen die Politik des Staates Israel, aber sie meinen doch die Juden insgesamt. An manchen Schulen trifft es sogar Kinder.“

„So ist es, mein Junge, sie sagen Israel und wünschen allen Juden den Untergang. Und damit toben sie sich dann vor dem Brandenburger Tor aus. Die deutsche Vergangenheit ist ihnen egal, oder sie kennen sie gar nicht. Diese Protestierer genießen die Wohltaten der Bundesrepublik und missbrauchen gleichzeitig das Gastrecht.“

„Pass auf, Thekelchen, du klingst schon wieder ganz patriotisch. So wie damals, als du nicht glauben wolltest, dass die Nazis tun würden, was sie dann doch getan haben, und als wir beide nicht rechtzeitig geflohen sind. Ich frage mich, warum man diese Undankbaren so enthusiastisch willkommen geheißen und warum man uns so tödlich gehasst hat und hasst?“

Kaum hatte mein Onkel Günter diesen Satz in die kalte Winterluft gesagt, da wurde das Schneetreiben dichter. Ein paar Flocken fegten ins Zimmer und streiften meine Wangen. Die Wolke mit meinen Lieben schwamm langsam von mir weg. Ein bisschen sah es so aus, als würden die beiden mir zum Abschied zuwinken. Auch ein paar Satzfetzen konnte ich noch vernehmen: „Heute ist doch der deutsche Staat auf unserer Seite . . .“  und: „Der Innenminister will einen Antisemitismus-Beauftragten installieren . . .“

Ich schloss das Fenster, zündete ein paar Kerzen an, sog den Duft des Adventskranzes tief ein und legte das „Weihnachtsoratorium“ von Johann Sebastian Bach auf.