Im Mobbingprotokoll von Sam geht es täglich weiter. „Cerkan warnt die anderen, dass ich Jude bin.“ Erdal erzählt einen Witz: „Ein Jude sagt ‚Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Schönsten im ganzen Land?’ ‚Du hast kein Land.’” Es setzt Hiebe in den Nacken, Tritte, Schubser, die Beleidigungen sind antisemitisch, aber auch homophob. Samuel wird weit über seine Klasse hinaus zum Mobbingopfer, es sind auch ältere Schüler, die ihn terrorisieren. Die Großeltern kommen, um vor der Klasse zu sprechen. Samuel freute sich, als ein türkisches Mädchen sich bei den Großeltern bedankte.

 

„Ich glaube daran, dass man Kinder zu Toleranz und gewaltfreiem Umgang erziehen kann“, sagt sie. „Ich blieb optimistisch.“ Zu Unrecht, wie sich herausstellte. Als Samuel mit dem Bluterguss nach Hause kommt, verlangen die Eltern die Suspendierung des Schlägers. „Es ist nicht passiert“, sagt Rachel Berger. „Auch die Polizei wurde damals nicht eingeschaltet.“ Genauso wenig wie die Antidiskriminierungsbeauftragte der Schulverwaltung.

Der Nahostkonflikt auf dem Rücken eines 14-jährigen

Nach dem Vorfall mit der Pistolenattrappe ist für die Bergers Schluss. Sie melden ihr Kind ab. Aber nicht schweigend. „Das muss ans Licht, sonst ändert sich nichts“, sagt Rachel Berger. Der Schulleiter reagierte mit einem offenen Brief auf die Berichterstattung im „Jewish Chronicle“. Er drückt darin „Bedauern und Entsetzen“ aus. Aber er schreibt auch, die Schule habe noch nie mit Antisemitismus zu tun gehabt. Die Bergers ärgern sich über das in ihren Augen Verharmlosende des Textes.

Schlimmer noch klingt ein Brief mehrerer Eltern an den Berliner „Tagesspiegel“: Sie halten zwar den Fall für bestürzend, aber der Leumund der Schule macht ihnen Sorgen. Schuld sind nicht die Täter, sondern eine einseitige Berichterstattung - und die Weltpolitik. Wie es kommt, dass diese auf dem Rücken eines einzelnen Teenagers ausgetragen wird, steht auch in dem Brief: Eine Stadt wie Berlin bleibe eben von den „Auswüchsen internationaler Konflikte wie des Nahostkonflikts nicht verschont“. Dies sei ein „Dokument des Versagens“, schrieb daraufhin der jüdische Publizist Sergey Lagodinsky. Der Brief sei eine Beleidigung für das Opfer und die Familie. Auf der Website der Schule heißt es inzwischen, man übernehme Verantwortung „im Zusammenhang mit den antisemitischen und rassistischen Vorfällen“.

Und Samuel Wie geht es ihm jetzt? Oft nicht gut. „Mir fallen immer wieder Sachen ein, die passiert sind“, sagt er. Neulich saß die Familie zusammen. Der Großvater erinnerte sich an die Zeit, als er so alt war wie Sam. Gerade hatte er die Nazis überlebt. Er ging in Berlin auf eine katholische Schule. Es gab täglich Schikanen, weil er Jude war. Er hat sie im Ohr, wenn er jetzt zuhört, was ihm sein Enkel erzählt - 70 Jahre später.

Und jetzt? Jetzt sitzt Rachel Berger vor einem Stapel Papier, als wolle sie etwas sortieren, was sich nicht so einfach sortieren lässt. Sie ist 51 Jahre alt, aufgewachsen in London, Geschäftsfrau mit eigenem Unternehmen, mit ihrem deutschen Mann und drei Kindern lebt sie seit 2003 in Berlin, ein weltliches Leben, Religion spielt keine große Rolle. Rachel ist ein Machertyp, effizient, lösungsorientiert, und vielleicht auch deshalb will ihr nicht in den Kopf, was da passiert ist – weil es anders hätte laufen können.

Oben auf dem Stapel liegt ein Papier mit der Überschrift „Mobbingprotokoll“. Samuel hat hier aufgeschrieben, was ihm passiert ist. Die Aufzeichnungen beginnen eine Woche nach seinem ersten Tag an der neuen Schule. Sam wollte hierher, er wollte weg von dem bürgerlichen Potsdamer Gymnasium, auf das er seinem großen Bruder gefolgt war. Drei Viertel der 850 Schüler auf der Gemeinschaftsschule Friedenau haben Deutsch nicht als Muttersprache, viele arabische oder türkische Wurzeln, eine echte Großstadtschule, nicht einfach, aber die Pädagogen gelten als engagiert, haben moderne Lernkonzepte eingeführt.

„Übrigens, wir sind Juden – das ist doch kein Problem?“

Rachel Berger erinnert sich, wie sie dem Schulleiter im ersten Gespräch sagte: „Übrigens, wir sind Juden, das ist doch kein Problem oder?“ Sie kam sich komisch vor, es überhaupt zu erwähnen. Die ersten Tage an der Schule Ende November laufen toll, Samuel ist begeistert. Am Donnerstag der ersten Woche hat er zum ersten Mal Ethik-Unterricht, Thema Weltreligionen. Er sagt, dass er Jude ist. „Er war völlig überrascht von der Reaktion“, sagt seine Mutter. „Im Klassenzimmer herrschte Totenstille, die Mitschüler blickten ihn schockiert an.“ Tags darauf kommt sein neuer Freund Orhan auf ihn zu. Die Jungs mögen einander vom ersten Tag an. „Hey, bist du wirklich ein Jude?“, habe er gefragt. Sam nickt. „Du bist ein echter Babo, aber dann können wir nicht befreundet sein“, habe Orhan geantwortet. „Er sagte es bedauernd“, sagt Samuel. Dann folgte eine Aufzählung der Gründe. Ein antisemitisches Klischee reiht sich ans andere. Juden sind Mörder, geldgierig, und so weiter.

„Ich hatte Angst, was jetzt passiert“, erinnert sich die Mutter. Die Familie bespricht, was man tun könnte. Samuels Großeltern haben den Holocaust überlebt. Seit Jahren sprechen sie vor Schülern als Zeitzeugen. Sofort sagen sie ihrem Enkel, dass sie gern auch in seine Klasse kommen. Rachel Berger googelt sich am Wochenende Lösungsansätze zusammen. Sie findet eine interreligiöse Berliner Initiative, hat Kontakt zu einer Türkin, die selbst Rassismuserfahrungen gemacht hat und vor der Klasse sprechen könnte. Am Montag hat sie ohnehin einen Termin beim Schulleiter für die Formalitäten der endgültigen Anmeldung. „Ich erzählte ihm alles, und er fand die möglichen Vorschläge gut“, sagt Berger. „Er versprach, sich zu kümmern.“ Das war am 5. Dezember. „Aber drei Monate lang passierte nichts davon“, sagt Rachel Berger. „Keine externe Hilfe.“ Irgendwann trifft sie auf die Sozialarbeiterin der Schule, fragt nach, was denn geplant sei. „Sie sagte zu mir: Wir wollen uns nicht von Ihnen überrollen lassen.“

„Es muss ans Licht, sonst ändert sich nichts.“

Im Mobbingprotokoll von Sam geht es täglich weiter. „Cerkan warnt die anderen, dass ich Jude bin.“ Erdal erzählt einen Witz: „Ein Jude sagt ‚Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Schönsten im ganzen Land?’ ‚Du hast kein Land.’” Es setzt Hiebe in den Nacken, Tritte, Schubser, die Beleidigungen sind antisemitisch, aber auch homophob. Samuel wird weit über seine Klasse hinaus zum Mobbingopfer, es sind auch ältere Schüler, die ihn terrorisieren. Die Großeltern kommen, um vor der Klasse zu sprechen. Samuel freute sich, als ein türkisches Mädchen sich bei den Großeltern bedankte.

„Ich glaube daran, dass man Kinder zu Toleranz und gewaltfreiem Umgang erziehen kann“, sagt sie. „Ich blieb optimistisch.“ Zu Unrecht, wie sich herausstellte. Als Samuel mit dem Bluterguss nach Hause kommt, verlangen die Eltern die Suspendierung des Schlägers. „Es ist nicht passiert“, sagt Rachel Berger. „Auch die Polizei wurde damals nicht eingeschaltet.“ Genauso wenig wie die Antidiskriminierungsbeauftragte der Schulverwaltung.

Der Nahostkonflikt auf dem Rücken eines 14-jährigen

Nach dem Vorfall mit der Pistolenattrappe ist für die Bergers Schluss. Sie melden ihr Kind ab. Aber nicht schweigend. „Das muss ans Licht, sonst ändert sich nichts“, sagt Rachel Berger. Der Schulleiter reagierte mit einem offenen Brief auf die Berichterstattung im „Jewish Chronicle“. Er drückt darin „Bedauern und Entsetzen“ aus. Aber er schreibt auch, die Schule habe noch nie mit Antisemitismus zu tun gehabt. Die Bergers ärgern sich über das in ihren Augen Verharmlosende des Textes.

Schlimmer noch klingt ein Brief mehrerer Eltern an den Berliner „Tagesspiegel“: Sie halten zwar den Fall für bestürzend, aber der Leumund der Schule macht ihnen Sorgen. Schuld sind nicht die Täter, sondern eine einseitige Berichterstattung - und die Weltpolitik. Wie es kommt, dass diese auf dem Rücken eines einzelnen Teenagers ausgetragen wird, steht auch in dem Brief: Eine Stadt wie Berlin bleibe eben von den „Auswüchsen internationaler Konflikte wie des Nahostkonflikts nicht verschont“. Dies sei ein „Dokument des Versagens“, schrieb daraufhin der jüdische Publizist Sergey Lagodinsky. Der Brief sei eine Beleidigung für das Opfer und die Familie. Auf der Website der Schule heißt es inzwischen, man übernehme Verantwortung „im Zusammenhang mit den antisemitischen und rassistischen Vorfällen“.

Und Samuel Wie geht es ihm jetzt? Oft nicht gut. „Mir fallen immer wieder Sachen ein, die passiert sind“, sagt er. Neulich saß die Familie zusammen. Der Großvater erinnerte sich an die Zeit, als er so alt war wie Sam. Gerade hatte er die Nazis überlebt. Er ging in Berlin auf eine katholische Schule. Es gab täglich Schikanen, weil er Jude war. Er hat sie im Ohr, wenn er jetzt zuhört, was ihm sein Enkel erzählt - 70 Jahre später.