Amy Gutmann, US-Botschafterin in Deutschland, ist vom Antisemitismus nicht überrascht. Sie sagt, der Kampf dagegen vereine Deutschland und die USA – wie auch die Hilfe für die Ukraine.

Juden in Deutschland werden bedroht und angegriffen. Das findet US-Botschafterin Amy Gutmann „verstörend“. Und an die Adresse von Muslimen gerichtet, die meinen, der Holocaust gehe sie nichts an, sagt sie: „Die Geschichte Deutschlands ist unser aller Geschichte, definitiv aber von allen, die in Deutschland leben.“

 

Frau Botschafterin, Juden in Deutschland beklagen eine verbreitete emotionale Kälte angesichts des anwachsenden Antisemitismus. Wie sehen Sie das?

Die Zunahme von Antisemitismus in Deutschland, den USA und überall auf der Welt ist erschreckend. Beeindruckt hat mich die Bundesregierung, die sich sofort dagegen gewandt hat, und auch, wie viele Bundesländer etwas dagegen tun. Ich selbst ermutige die Menschen mit der Kampagne „Stand up and Speak out“ gegen Antisemitismus und alle Formen von Hass zu kämpfen. Von meinem Vater habe ich gelernt, dass man man früh und oft aufstehen und sich wehren muss, um diese Geißel zu bekämpfen.

Was sagen Sie zum Slogan deutscher Aktivisten „Befreit Palästina von deutscher Schuld“?

Das ist verstörend. Ich wünschte, es hätte mich überrascht. Doch das geschieht nicht zum ersten Mal. Ähnliches sehe ich auch in meinem Land. Aber in Deutschland mit seiner Geschichte ist das noch beunruhigender. Das deutsch-amerikanische Verhältnis fußt auf einer starken Verteidigung der Demokratie und einer standhaften Unterstützung Israels durch beide Verbündete. Es sollte keinen Mangel an Anerkennung mehr für die Menschenrechte von Israelis und Palästinensern geben. Wir ringen um eine Zwei-Staaten-Lösung. Aber diejenigen, die das Existenzrecht Israels verneinen, vernichten jede Chance auf Frieden.

Einige Muslime in Deutschland meinen, der Holocaust „ist nicht unsere Geschichte“, sie seien heute die wahren Opfer von Vorurteilen. Was entgegnen Sie diesen Menschen?

Muslime, die darauf bestehen, dass sie die Opfer seien und nicht die Juden, erkennen nicht an, was uns die Geschichte lehrt: Antisemitismus ist häufig ein Vorläufer anderer Hassformen. Die Geschichte Deutschlands ist unser aller Geschichte, definitiv aber von allen, die in Deutschland leben. Der Holocaust war der schrecklichste Versuch, ein Volk auszulöschen. Glücklicherweise war er nicht erfolgreich. Aber selbst glückliche Überlebende wie meine Familie waren traumatisiert. Israel ist heute für die Juden Gott sei Dank ein Heimatland. Und wir wollen auch ein Heimatland für die Palästinenser. Aber nur der Frieden führt zu diesem Ziel.

Sollten die USA als Israels wichtigster Verbündeter ihre Unterstützung an die Bereitschaft Israels zur Mäßigung im Kampf gegen die Hamas knüpfen?

Meine Regierung tritt ein für das Existenzrecht Israels in Frieden und Sicherheit, für humanitäre Hilfe an palästinensische Zivilisten, für die Freilassung der Geiseln durch die Hamas und für das internationale Recht. Nach humanitärem Völkerrecht dürfen Zivilisten nicht ins Visier genommen werden, und es darf keine unverhältnismäßigen Verluste von Zivilisten geben. Aber viele Palästinenser sterben, weil die Hamas-Terroristen sie als Schutzschilde missbrauchen. Das erschwert das Vorgehen Israels. Wir werden Israel so lange unterstützen, wie es nötig ist.

Also keine Bedingungen für die Hilfe?

Israel wurde Opfer eines Terrorangriffs. Es hat das Recht auf Selbstverteidigung.

Themenwechsel: Im Kanzleramt überwiegt das Denken, man tue genug für die Ukraine. Stimmen Sie dem zu?

Deutschland hat sich in kürzester Zeit unabhängig von russischer Energie gemacht, startete die Modernisierung des Militärs, ist militärisch zum zweitgrößten Unterstützer und zum größten Aufnahmeland für Flüchtlinge aus der Ukraine geworden. Eine bemerkenswerte Zeitenwende.

Das Verfassungsgericht hat die Regierung um 60 Milliarden Euro ärmer gemacht. Erwarten Sie Folgen für das Zwei-Prozent-Ziel bei den Verteidigungsausgaben?

Das sollten Sie deutsche Politiker fragen. Ich nehme aber Kanzler Scholz beim Wort, dass er die Zwei-Prozent-Verpflichtung für die Nato im nächsten Jahr und von da an dauerhaft erfüllt, auch wenn das schwierig wird angesichts von Schuldenbremse und vieler anderer Erwartungen der Bürger.

Auch die US-Regierung zögert mit der Lieferung von mehr weit reichenden Waffen, die die Ukraine braucht, um aus dem Patt auszubrechen. Warum?

Präsident Biden hilft der Ukraine und verhindert gleichzeitig eine Eskalation des Kriegs. Er folgt einer doppelten Verpflichtung: die Demokratie zu Hause und im Ausland zu verteidigen und unsere Bürger keiner unnötigen Gefahr auszusetzen. Kein leichtes Unterfangen. Es wäre leicht gewesen, die Ukraine waghalsig zu unterstützen und den Krieg zu eskalieren. Und es wäre leicht gewesen, die Ukraine nicht zu unterstützen. Die Öffentlichkeit und beide Parteien tragen den Kurs des Präsidenten mit. Kanzler Scholz hat Ähnliches erreicht.

Wie sollte Deutschland mit den USA nach einer Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus umgehen?

Es ist wichtig, dass wir die transatlantischen Beziehungen auf einer überparteilichen Basis ausbauen. Wir finden große Unterstützung für die Ukraine und Israel. Dasselbe gilt für Deutschland und die wichtigen Parteien. Darauf lässt sich aufbauen. Joe Biden zeigt den Amerikanern, wie viel die USA profitieren, wenn sie mit den Verbündeten kooperieren und über Parteigrenzen hinweg arbeiten. Ich vertraue den Amerikanern.

Amy Gutmann

Diplomatin
 Amy Gutmann, 73, ist eine Woche vor dem russischen Angriffskrieg im Februar 2022 als US-Botschafterin in Berlin eingetroffen. Zuvor war die Politikwissenschaftlerin lange Jahre Präsidentin der Eliteuniversität von Pennsylvania und hat zahlreiche Bücher über Demokratie geschrieben. Sie hat einen engen Draht zu Präsident Joe Biden, spätestens seit sie ihm 2017 nach dem Tod seines Sohns Beau eine Dozentenstelle anbot, die ihn nach eigenen Worten „gerettet“ habe.

Persönliches
 Sie ist die Tochter eines deutschen Juden, der 1934 vor den Nazis aus dem mittelfränkischen Feuchtwangen zunächst nach Indien floh, bevor er Ende der 40er Jahre in New York landete, wo Gutmann geboren ist. Ihren Amtseid schwor sie auf einer hebräischen Bibel, die ihre deutsche Großmutter Amalie, von der sie auch ihren Namen hat, mitgenommen hat.