Bis das Zwerchfell zuckt: Barbara Jeschke, Apnoe-Taucherin im deutschen Nationalteam, hält nicht nur im Freibad gerne die Luft an.

Stuttgart - Wenn man die Zeit zu lange einsperrt, wird sie wütend. Dann zwickt sie das Zwerchfell und pocht wild gegen die Schläfe. Die meisten Menschen halten das nicht lange aus. Bei Barbara Jeschke ist das anders. Sie mag es, wenn die Zeit rebelliert. Dann spürt sie sich selbst wie sonst nie.

 

Noch ein letzter Atemzug. In kurzen Happen schluckt die Taucherin Luft. Sie wirkt dabei wie ein Karpfen, der in der Badewanne nach Luft japst. Ihre Lunge ist prallvoll. Sanft lässt sie ihren Kopf unter Wasser gleiten. Der Puls verlangsamt sich. Die Zeit fließt ruhig und gleichmäßig dahin.

Apnoe-Taucher sind ein seltsames Volk. Man trifft sie in Ägypten am Blue Hole, wo sie an einem fixierten Seil hinabgleiten ins endlose Blau, das schwer liegt auf ihren Körpern. Man sieht sie immer öfter auch in heimischen Planschoasen, wo es unter Wasser nicht viel zu entdecken gibt, es sei denn, man hätte ein Faible für Kacheln.

Apnoe ist griechisch und bedeutet "ohne Atmung"

Neben dem großen Becken des Ludwigsburger Freibads liegt der Neckar an diesem Abend träge in seinem Bett. Ein Binnenfrachter schippert flussabwärts. Wellen schlagen sanft gegen das Ufer. Ein guter Ort zum Verweilen. Barbara Jeschke, 56, hat ihren Arbeitstag hinter sich. Als Anästhesistin stand sie stundenlang im Operationssaal und schickte Patienten ins Reich der Träume. Jetzt will sie selbst träumen.

Apnoe ist griechisch und bedeutet "ohne Atmung". Es gibt in diesem Sport viele Kategorien und noch mehr Rekorde, die jedes Jahr purzeln. "No Limits" heißt die Brachialdisziplin. Nach einem tiefen Atemzug rauschen die Freitaucher an einem Schlitten so weit hinab, bis ihre Lungen unter dem Druck auf Apfelsinengröße geschrumpft sind. Minuten später steigen sie an einem Ballon empor. Manche bleiben zu lange unten. Die Französin Audrey Mestre tauchte 2002 vor der Dominikanischen Republik 171 Meter tief, dann machte beim Aufstieg ihr Ballon schlapp. Jede Hilfe kam zu spät.

Leidenschaft erst spät entdeckt

Immer mehr Hobbytaucher berauschen sich an der Tiefe. Luc Besson hat darüber einen Film gedreht. Er handelt von der Rekordjagd zweier Männer, die auch im wirklichen Leben Rivalen waren. Enzo Maiorca galt in den sechziger Jahren als bester Taucher der Welt. Als er die 50 Meter schaffte, sagten die Ärzte, dass er nicht tiefer gehen dürfe. Er tauchte danach hundert Meter. Sein Gegner hieß Jacques Mayol. Im Film bezahlt Enzo am Ende einen Rekordversuch mit seinem Leben. Jacques hält seinen sterbenden Freund im Arm. "Bring mich zurück", stammelt Enzo an der Wasseroberfläche. "Ich muss dahin, wo ich hingehöre."

Barbara Jeschke ist dort seit zwei Minuten. Sie genießt die Magie des Augenblicks. Apnoe-Tauchen kann schön sein, zumindest in den ersten Minuten. Im ägyptischen Hurghada saß sie mal an einem Pool und entdeckte einen leblosen Mann im Wasser. Es war Herbert Nitsch, ein österreichischer Freitaucher, der nicht tot war, sondern nur ein bisschen trainierte. Nitsch kam nach neun Minuten wieder hoch. Er hält mit 214 Metern den Weltrekord im Tieftauchen.

Auf Anhieb schaffte sie zweieinhalb Minuten

"Die Weisen erfreuen sich am Wasser", hat Konfuzius einmal gesagt. Barbara Jeschke liebte das Meer schon immer. Ihre Leidenschaft fürs Freitauchen hat sie jedoch erst spät entdeckt. Sie stammt aus Duisburg, hat in Heidelberg Medizin studiert und danach als Notärztin gearbeitet. Irgendwann kam sie nach Baden-Württemberg und fand zum Triathlon. Weil sie zu den Menschen gehört, die gerne besser werden, stählte sie ihren Körper so lange, bis er für den Ironman auf Hawaii bereit war. Eher zufällig begegnete ihr 2004 beim Schwimmtraining im Sindelfinger Badezentrum ein seltsamer Typ mit Taucheranzug und Monoflosse, der von Weitem aussah wie eine dieser Meerjungfrauen. Der Mann war Freitaucher und lernte sie ein.

Den Kopf sollte die Novizin möglichst lange unter Wasser halten, was ihr zunächst völlig absurd schien. Auf Anhieb schaffte sie zweieinhalb Minuten. Ein paar Wochen später stand in Berlin die lange Nacht der Apnoe-Taucher an. Barbara Jeschke fuhr spontan hin. Sie tauchte im Becken mit ihren Flossen 85 Meter weit und fand sich unerwartet auf dem Siegerpodest wieder.

"Der wachsen irgendwann Kiemen"

Drei Minuten. Der Badeschluss naht in Ludwigsburg, die Schwimmer gehen nach Hause. Barbara Jeschke bleibt noch ein bisschen. Ihr Zwerchfell beginnt zu zucken. Für Freitaucher ist das ganz normal. Der Körper schickt eine E-Mail an die Schaltzentrale: "Bitte schnaufen." Man kann solche Post erstaunlich lange ignorieren. Ein paar Halbwüchsige schlendern vorbei und wundern sich über die Frau im Wasser. Der Bademeister bleibt locker. Er kennt die Freitaucherin. Sie hat eine Jahreskarte. "Der wachsen irgendwann Kiemen", sagt er.

Ihr Sport ist vergleichsweise jung. Es beginnt 1949 irgendwo am Mittelmeer. Der Italiener Raimondo Bucher prahlt in einer Bar auf Capri, er habe mit seiner Harpune in 30 Meter Tiefe einen Zackenbarsch geschossen. Man glaubt ihm nicht. Am nächsten Tag setzt sich sein Kumpel auf den Meeresgrund und wartet gespeist vom Sauerstoff aus der Pressluftflasche. Als der Speerfischer tatsächlich erscheint, steht der erste Weltrekord. Es ist viel passiert seitdem. In 30 Metern machen sich gute Apnoe-Sportler heute allenfalls warm.

Die Klinikärztin kennt ihre Grenzen

Barbara Jeschke hat ihre Probleme mit dem Tieftauchen, weil ihr der Druckausgleich nach 25 Metern schwer fällt. Sie konzentriert sich deshalb auf die Pooldisziplinen, wo sie in der deutschen Bestenliste mitmischt. Jedes Jahr ist sie besser geworden auch wegen ihrer Kurse bei Umberto Pelizzari, einer Legende unter den Freitauchern. "Du bist mein kleine Wassernixe", lobte der Meister seine deutsche Schülerin. 2007 knackte sie bei der Weltmeisterschaft in Slowenien den Landesrekord im Streckentauchen mit Flossen. 134 Meter. Er blieb zwei Jahre bestehen. Inzwischen ist Anna von Bötticher national spitze. Sie schaffte noch dreißig Meter mehr. International ist auch sie nicht ganz vorne. Da sind die 200 Meter längst das Maß der Dinge. Vier lange Bahnen sind das im Freibad.

Drei Minuten und 30 Sekunden. Barbara Jeschke ist noch immer unten. Der Brustkorb zuckt. Kann es Spaß machen, sich selbst bis kurz vor dem Blackout gegen den Atemreiz zu wehren? Ist das gesund? Die Klinikärztin kennt ihre Grenzen. Rekordversuche macht sie nie ohne Sicherung. Mit Katja Kedenburg und Oliver Haug, zwei erfahrenen Freitauchern aus Ludwigsburg, bildet sie eine Trainingsgemeinschaft. In der Szene kennt, coacht und hilft man sich.

Mehr als nur ein Sport

Im Frühjahr war Barbara Jeschke mit Kathryn Nevatt, einer Weltklasseathletin in Neuseeland. Sie tauchten in Wracks und Höhlen. Im Oktober geht es mit der Nationalmannschaft nach Venedig. Dazwischen liegt das Freibad. Die Uhr tickt. Vier Minuten. Der Weltrekord der Frauen liegt bei acht Minuten, 23 Sekunden.

Man kann den Körper auf verschiedene Weise für solche Momente trainieren. Enzo Maiorca rannte die Stufen zu seinem Haus in der Altstadt hoch, ohne dabei Luft zu holen. Bei manchen Wettbewerben schwimmen Athleten 50 Meter unter Wasser und tauchen dann auf. Sechzehnmal wird ihnen das abverlangt. Wer die kürzesten Pausen zum Luftholen einlegt, braucht am wenigsten Zeit für die Strecke und gewinnt. Barbara Jeschke trainiert auch im Fitnessstudio. Sie setzt sich an die Beinpresse und drückt Gewichte. Das tun viele. Sie macht es mit angehaltenem Atem.

Fast fünf Minuten sind es heute geworden

Vier Minuten 30 Sekunden. Es ist vielleicht die größte Ironie unserer Tage, dass der Mensch trotz all seiner zeitsparenden Erfindungen weniger Zeit für sich selbst hat als je zuvor. Barbara Jeschke sperrt die Zeit bei ihren Tauchgängen ein, um sie besser zu spüren. Sie gehört zu den zähen Naturen. Ein paar Blubberblasen steigen im Becken auf. Der Kopf geht nach oben. Fast fünf Minuten sind es heute geworden.

"Für mich ist das mehr als nur ein Sport", sagt die Freitaucherin und steigt entspannt aus dem Becken. "Ich erfahre jedes Mal etwas Neues über mich." Morgen kommt sie wieder. Sie will die fünf Minuten knacken - und es in vollen Zügen genießen.