Die Restauratorin Nicole Ebinger-Rist arbeitet an unwiederbringlichen Kunstwerken – oft in großer Stille und abgeschieden.

Esslingen - Dieses Gebäude steckt voller Geheimnisse. Geheimnisse, von denen selbst die Bewohner noch nichts wissen. Das lange rote Backsteingebäude mit dem modernen gläsernen Anbau steht nur einen Steinwurf entfernt vom Esslinger Bahnhof. Früher war es einmal ein Schulhaus, doch dann zog hier das Landesamt für Denkmalpflege ein. Im vergangenen Jahr war das Gebäude die „Geburtsstätte“ des neuen „Löwenmenschen“ aus der Eiszeit: Die rund 30 Zentimeter kleine Figur – halb Mensch, halb Tier – ist einer der größten Schätze des Landes und rund 40 000 Jahre alt. Die Diplomrestauratorin Nicole Ebinger-Rist hat ihm hier, im Denkmalamt, zu neuer Größe verholfen: Sie hat den Löwenmenschen neu zusammengesetzt.

 

Die Puzzlestücke Foto: LAD
Wenn irgendwo im Land Baumaßnahmen, wie beispielsweise lCE-Trassen oder Gaspipelines, anstehen, gehen der Naturschutz und die Denkmalpflege voraus. Wenn die Archäologen dabei etwas Interessantes zu Tage fördern, wandert das ins Landesamt für Denkmalpflege. Nicole Ebinger-Rist leitet hier die Abteilung „archäologische Restaurierung“. Von dem Moment an, wenn die Fundstücke hier angeliefert werden, trägt sie die Verantwortung für die Grundversorgung der Objekte, für die richtige Lagerung und die Inventarisierung. Sie muss das passende Klima finden für unterschiedliche Materialien, die richtigen Tüten, die richtigen Verpackungen. Für jeden Arbeitsschritt gibt es hier Räume: Werkstätten, Chemikalienlager, Labore, Depots, ein Röntgenraum. Und weil es um Schätze geht, gibt es hier sogar einen Tresor, raumhoch.

„Unser größter Raum ist allerdings das Gefriermagazin“, sagt Ebinger-Rist und öffnet die Tür zu einem Kühlraum, so groß wie eine Zweizimmerwohnung. Eiskalte Luft strömt heraus, an den Wänden und am Boden haben sich weiße Kristalle gebildet, und bis in die Tiefen des Raumes hinein stapeln sich Unmengen von Kisten. Ganz vorne am Eingang liegen armlange Päckchen, aufgetürmt auf einem blauen Rollwagen – Schwerter aus Eisen, aus frühmittelalterlichen Männergräbern. Bei minus 20 Grad werden sie hier so aufbewahrt, dass sie keinen Schaden nehmen, bis sie irgendwann einmal wissenschaftlich ausgewertet werden können. Bis dahin schlummern die Schwerter im Eis und hüten weiter ihr Geheimnis.

Der Löwenmensch Foto: LAD

Bis das gelüftet wird, kann es dauern. Beim Löwenmenschen zog sich die Spurensuche über Jahrzehnte hin. Die kleine, aus dem Stoßzahn eines Mammuts geschnitzte Figur hat eine erstaunliche Geschichte. Bei Ausgrabungen in der Stadelhöhle, im Lohnetal bei Ulm, wurden 1939, kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges, mehr als 200 kleine Fragmente gefunden.

Noch erahnte damals niemand ihre Bedeutung. In den 60er Jahren landeten die Fundstücke schließlich im Ulmer Museum – und man erkannte, dass die Fragmente zu einer Figur gehören. Nach und nach tauchten dann – auf mehr oder minder mysteriöse Weise – weitere Teile des Löwenmenschen auf.

So soll beispielsweise in den 70er Jahren eine Besucherin dem Museum eine Schachtel mit Fundstücken gebracht haben, die ihr Sohn beim Spielen in der Stadelhöhle gefunden hatte. Aber erst im Jahr 1988 wurde die Figur erstmals professionell restauriert. Damals nahm man noch Wachs zu Hilfe, um die Figur anschaulicher zu machen, um Lücken zu schließen.

Dies Aufgabe war nur mit Handarbeit zu lösen

„Und dieses Wachs mussten wir im vergangenen Jahr wieder entfernen“ , berichtet Nicole Ebinger-Rist, die von 2012 bis 2013 mit ihrem Team den Löwenmenschen in mühevoller Kleinstarbeit erneut restaurierte. Man hatte sich zu diesem Schritt entschlossen, nachdem seit 2009, bei gezielten Nachgrabungen des Denkmalamtes, weitere Fragmente der Figur in der Stadelhöhle gefunden worden waren. Um diese neuen Teile einzufügen, musste der Löwenmensch erst einmal komplett zerlegt werden.

„Und danach lag ein Puzzle mit 800 Teilen vor mir“, berichtet die Restauratorin. Nur noch Originalteile, ohne „künstlerische Ergänzungen“. Sie hat eine Archäologin und eine Elfenbein-Expertin hinzugezogen und angefangen zu puzzeln. Vorzugsweise nachts: von zehn Uhr abends bis vier Uhr in der Früh, wenn es schön ruhig war im Denkmalamt. Es gibt zwar heutzutage für alles die Computertechnik, so Ebinger-Rist, aber diese Aufgabe war nicht virtuell, sondern nur mit Handarbeit zu lösen.

Vier Monate lang blieb die Türe zu. Das Internet, Besucher und der Lärm der Welt blieben draußen. Wenn sie mit ihrem Tagwerk, oder besser: mit ihrer Nachtschicht fertig war, kam der Sicherheitsdienst und schloss den Löwenmenschen wieder ein.

Im November 2013, nach fast exakt einem Jahr Restaurierung, war das Werk vollbracht: Der neue Löwenmensch kam in die Glasvitrine seiner ersten Ausstellung. Er sieht nun etwas kantiger aus als in der ersten Version und ist auch etwas größer. Die Aufgabe von Ebinger-Rist war damit aber noch nicht erfüllt. Im öffentlichen Trubel musste sie nun noch dafür sorgen, dass das Klima und die Luftfeuchtigkeit konstant blieben, ganz gleich, ob vier oder 40 Leute im Raum waren.

In ihrem Beruf dauerten viele Prozesse lang. „Das geht nur mit Geduld und Beharrlichkeit“, meint die Restauratorin. Unverzichtbar seien auch Fingerspitzengefühl und gutes Sehvermögen. Man sollte auch einen gewissen Druck aushalten können, Verantwortung, die mit dem Beruf einhergehe.

Eines der ältesten bekannten Kunstwerke weltweit

Bei Objekten wie dem Löwenmenschen könne einen der Gedanke an seine wissenschaftliche und kulturelle Bedeutung schon „hochnervös“ machen. Schließlich sei er eine Ikone, eines der ältesten weltweit bekannten Kunstwerke der Menschheit. Unschätzbar sei sein Wert, in Euro gar nicht zu beziffern. „Es hätte ja auch sein können, dass es schiefgeht“, meint Ebinger-Rist über ihre Arbeit. Doch diesen Gedanken habe sie immer wieder erfolgreich verdrängt: „Die Ehrfurcht muss man irgendwann ausschalten.“

Ob sie als Kind schon gern gepuzzelt habe? Die Restauratorin verneint entschieden: „Allein schon die Motive – zwei Kätzchen auf einem rosa Poster –, das fand ich albern.“ Außerdem habe man das Ergebnis ja schon immer von vornherein gekannt: „Das Bild war ja immer hinten auf der Packung drauf. Das war langweilig.“

Den Reiz ihres Berufes mache ja gerade aus, dass man erst einmal gar nicht wisse, was aus einem Fundstück letztlich herauskäme. „Unsere Tätigkeit ist, ein bisschen das Geheimnis zu lüften“, sagt Nicole Ebinger-Rist. Und dazu muss sie ja nur in den Keller gehen. Da warten noch jede Menge Überraschungen auf sie.

Der Beruf des Restaurators

Berufsstand Als „Restaurierung“ bezeichnet man die Wiederherstellung eines alten Zustandes, welcher oft im Laufe der Zeit verloren gegangen ist. Früher war ein Restaurator ein Künstler oder ein Handwerker. Inzwischen ist der Beruf wissenschaftlicher geworden; meist führt nun ein Studium dahin. Die Naturwissenschaften spielen eine immer größere Rolle, die Materialkunde und technische Möglichkeiten, wie beispielsweise die Nutzung der Computertomografie. Nicole Ebinger-Rist hat Objekt-Restaurierung an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart studiert.

Verdienst Wirkten früher die Restauratoren im Verborgenen, publizieren sie heute ihre Arbeiten und werden so durchaus auch international bekannt. Zu etwas Ruhm kann man also kommen, reich wird man eher nicht: Berufseinsteiger mit einschlägigem Hochschulabschluss erhalten im öffentlichen Dienst rund 3000 Euro brutto. Der Verband der Restauratoren hat etwa 3000 Mitglieder.