Deutschland gibt überdurchschnittlich viel für die Sozialleistungen aus. Es sollte aber weniger Geld in die Familien und mehr in den Ausbau des sozialen Systems geben, sagt „Arche“-Gründer Bernd Siggelkow.

Bernd Siggelkow (48) hat 1995 „Die Arche“ in Berlin gegründet. Mittlerweile umfasst das Kinder- und Jugendwerk bundesweit 19 Einrichtungen in Deutschland und betreut fast 4000 Kinder. Nach eigenen Angaben benötigt der Theologe und frühere Jugendpastor dafür jährlich Spenden von acht Millionen Euro. Siggelkow wurde mit dem Bundesverdienstkreuz und dem Verdienstorden des Landes Berlin geehrt.
Herr Siggelkow, ist es angesichts der Armut weltweit nicht ein Luxusproblem, von Kinderarmut in Deutschland zu sprechen?
Natürlich ist das Armut auf einem anderen Niveau und damit nicht direkt vergleichbar. In Deutschland muss in der Regel keiner verhungern. Aber man kann sich doch kaum vorstellen, wie man nach Hartz-IV-Leistungssatz zum Beispiel mit unter drei Euro für ein Kind Frühstück, Mittagessen, Abendessen und das, was es sonst braucht, servieren soll.
Ganztagsschulen bieten doch auch Mittagessen an.
Dafür muss man ja auch Beiträge bezahlen, wobei das in einigen Bundesländern subventioniert wird. Aber wenn Kinder bei Eltern aufwachsen, die die Anträge nicht stellen, bleiben sie auf der Strecke. Wir bemühen uns um die Eltern. Aber die sind schon lange in den Brunnen gefallen, und das Seil muss lang sein, um sie da wieder rauszuholen. Einem Kind kann ich schneller Hoffnung und Perspektive geben. Wenn Kinder hierher ausgehungert zum Mittagessen kommen und sich fünf Mal Nachschlag holen, dann weißt du: denen haben wir nicht nur den Magen gefüllt, sondern auch etwas für die Seele getan.
Ihr aktuelles Buch heißt „Ausgeträumt – die Lüge vom sozialen Staat“. Was macht uns der Staat vor?
Wir sind sicher eines der Länder, das überdurchschnittlich viel Geld für Sozialleistungen ausgibt. Aber wir investieren es nicht richtig. Der deutsche Staat gibt mehr Geld in die Familien als in das soziale System. Wir brauchen beitragsfreie Mittagessen an Schulen und Kitas, kostenlose Lernförderung und kulturelle und sportliche Förderung ohne Beiträge. Nur das kommt den Kindern auch zugute.
Sie kritisieren die Ignoranz der Politiker.
Kürzlich gab es eine groß angelegte Untersuchung in Mathematik, und Berlin schnitt ganz schlecht ab. Da hat sich unsere Bildungssenatorin hingestellt und gesagt, es gebe in Berlin eben gute und schlechte Schulen. Da platzt mir der Kragen. Wenn ich das als Senatorin zugebe und nicht einmal reflektiere, müssen Kinder damit leben, dass sie im falschen Stadtteil geboren sind. Arme Kinder sind von so vielem ausgeschlossen. Dann schnürt man ein Bildungspaket für die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben. Aber jeder weiß, dass das nicht reichen kann.
Wie erleben Sie das Fest der Liebe und des Konsums, bei dem das zusammenkommt, was den Kindern fehlt?
Wir versuchen, ihnen in der Arche ein so schönes Weihnachtsfest wie möglich zu bereiten, natürlich auch mit Geschenken. Aber ich weiß, spätestens am 25. Dezember sind sie wieder alleine und wünschen sich, dass die Arche aufhätte, damit sie über die Feiertage hierher flüchten könnten. Das haben wir bisher noch nicht möglich gemacht. Weihnachten hat für mich immer ein freundliches und ein trauriges Auge. Meistens überwiegt das traurige.