Die Stuttgarter Jörg Esefeld und Sayman Bostanci haben einen Wettbewerb im Netz zur Neugestaltung des Kairoer Tahrirplatzes gewonnen.

Stuttgart - Eine dreißig Meter hohe Stele ragt auf dem Tahrirplatz in Kairo auf. Lichtfelder zeigen an, wie dicht das digitale Palaver im Umfeld des Platzes ist. Rot: sehr dicht. Gelb: wenig los bei Twitter, Facebook und Co. Wie ein Erdbebenwarner registriert dieser soziale Seismograf politische und gesellschaftliche Kommunikations- und Stimmungsausschläge im Zentrum der ägyptischen Hauptstadt. Vor dem Regierungsgebäude wirkt das Lichtobjekt als Erinnerungs- und Mahnzeichen zugleich. Erinnerung an die zu einem Gutteil von sozialen Netzwerken befeuerte arabische Revolution 2011 und die Umwälzungen im Land, Mahnung, die medial verbreitete Vox populi als Teil der demokratischen Willensbildung ernst zu nehmen.

 

Ein reines Gedankenspiel

Auch die Platzebene ist verwandelt. Überzogen von einem sich stellenweise wolkig verdichtenden, die Fläche gleichsam in optische Vibration versetzenden Muster aus unzähligen Schuh- und Fußabdrücken, erinnert sie ebenfalls an die Geschehnisse und die Protagonisten des Arabischen Frühlings. Farblich hervorgehoben sind in der Masse der Abdrücke die Fußpaare der Toten, während ihre Namen und Lebensdaten an einem „Ort des Wissens und Erinnerns“ im Sockel der Lichtskulptur gespeichert sind. An diesem werden auch alle digitalen Inhalte gesichert und wie in einem stetig wachsenden Archiv allen Besuchern zur Verfügung gestellt.

Realität? Nein, reines Gedankenspiel. Mit diesem Entwurf für einen „neuen Tahrirplatz“ haben die Stuttgarter Architekten Jörg Esefeld und Sayman Bostanci in diesem Frühjahr einen internationalen Ideenwettbewerb gewonnen. Dass der geradezu zum Synonym der Arabellion gewordene Tahrirplatz jemals nach Esefelds und Bostancis Vorstellungen Gestalt annimmt, steht aber kaum zu erwarten. Denn ausgelobt hatte den Wettbewerb nicht etwa die ägyptische Regierung oder die Stadt Kairo, sondern der amerikanische Galerist Ioan Dan Coma mit Sitz in Chicago, für den solche Fiktionen System haben.

Als Preis winkt die Veröffentlichung

Auf seiner Internetseite ICARCH – Abkürzung für International Competitions in Architecture – schreibt Coma unentwegt Wettbewerbsaufgaben aus, und jeder Architekt, der mag, kann mitmachen. Zu gewinnen gibt es nichts, denn Coma handelt im Eigenauftrag, aus Spaß an der Freud und der Überzeugung, dass Architektur Brücken schlagen kann: politisch, sozial, kulturell, geistig, ökonomisch . . .

Allen Teilnehmern, Siegern wie Ungekürten, winkt lediglich eine Veröffentlichung ihrer Entwürfe auf der ICARCH-Homepage, die als globaler Thinktank mittlerweile eine Fülle von Ideenskizzen umfasst, von einem Haus für Nietzsche bis zu einem Haus für Obamas Ex-Nanny und einer neuen Fassade für die New Yorker Börse. „Geld ist der Mubarak der USA“, schreibt Coma auf seiner Internetseite, deswegen brauche dieses Gebäude eine Fassade, die „die Wahrheit sagt über das, was im Inneren vorgeht“.

Die Stuttgarter haben Erfahrung in der arabischen Welt

So ungewöhnlich wie die Aufgaben lauten die Auslobungstexte. Beim Tahrir-Wettbewerb etwa forderte Coma die Teilnehmer auf „so idealistisch, so selbstlos, so inspiriert und inspirierend“ zu sein wie „das große Volk, das diese Revolution möglich gemacht hat“. Unter den eingereichten Arbeiten waren ein Sonnenblumenfeld, eine umgedrehte Pyramide (die „Basis“ zuoberst), ein parkartig befriedeter Tahrirplatz, auf dem die Stadtbevölkerung unter Bäumen lustwandeln soll oder auch eine rote Superhelix, die sich in den Himmel über Kairo schraubt.

Die international besetzte Jury – unverzichtbar in einem seriösen Wettbewerbsverfahren – fand den Entwurf von Esefeld und Bostanci am überzeugendsten. Zum Erfolg der Stuttgarter mag beigetragen haben, dass sie sowohl mit Erinnerungszeichen als auch mit Projekten in der arabischen Welt schon einige Erfahrung sammeln konnten. So nahmen sie am Wettbewerb zum Berliner Holocaust-Denkmal teil, und im syrischen Aleppo gestalteten sie im Auftrag der Aga Khan Foundation das Gelände am Fuß der mittelalterlichen Zitadelle zu einem autofreien, öffentlichen Stadtraum um, den die Bewohner Aleppos geradezu enthusiastisch in Besitz nahmen.

Ioan Dan Coma beglückwünschte die Gewinner des Tahrir-Wettbewerbs per Mail: „Congratulations, gut gemacht.“ Und auf seiner ICARCH-Seite gibt der leidenschaftliche Amerikaner der Hoffnung Ausdruck, mit dieser Ideenkonkurrenz wenigstens ein Samenkorn gepflanzt zu haben, das – unabhängig von jedweder Realisierung – beitragen werde, die Welt etwas gerechter werden zu lassen.