Die ARD zeigt am kommenden Mittwoch das bewegende Dokudrama „Meine Tochter Anne Frank“. Es ist der erste deutsche Film über das Schicksal des jüdischen Mädchens, dessen Tagebuch zum literarischen Mahnmal des Holocausts wurde.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - Es gehört zur Weltliteratur: „Das Tagebuch der Anne Frank“ wurde in siebzig Sprachen übersetzt; vielfach ist das Schicksal des wohl bekanntesten Opfers des Holocaust verfilmt, zu Theaterstücken, Hörspielen und Kompositionen verarbeitet worden. Sogar einen japanischen Zeichentrickfilm gibt es über das Leben des jüdischen Mädchens, das mit Vater, Mutter, Schwester in einem Amsterdamer Hinterhaus vor den Nazis untertauchte und nach 25 Monaten entdeckt wurde.

 

Dass das Dokudrama „Meine Tochter Anne Frank“, von der Produktionsfirma Ave und dem Regisseur Raymond Ley realisiert, die erste deutsche filmische Bearbeitung ist, erstaunt. Dass sie gerade jetzt im Fernsehen zu sehen ist, dagegen nicht.

Im März ist es siebzig Jahre her, dass Anne Frank im Alter von 15 Jahren im KZ Bergen-Belsen ermordet wurde. Gleichzeitig setzt diese ARD-Produktion die Reihe der qualitätsvollen fiktionalen und dokudramatischen Verarbeitungen der Geschichte des Nationalsozialismus fort, die derzeit gehäuft zu sehen sind, zuletzt „Das Zeugenhaus“ über das Gästehaus, in dem während der Nürnberger Prozesse Opfer und Täter des NS-Regimes unter einem Dach zusammenlebten. Die Auseinandersetzung mit dem Nazi-Terror garantiert Kinofilmen, Mehrteilern und TV-Events in der Regel ein großes Publikumsinteresse: Das moralische Drama des Menschen offenbart sich hier in großer Klarheit.

Kluge Montage aus Spielszenen und Zeitzeugen-Interviews

„Das Zeugenhaus“ wurde von Oliver Berben für das ZDF produziert; auch den Anne-Frank-Stoff wollte der Sohn von Iris Berben für den Mainzer Sender verfilmen. Das Projekt scheiterte wegen Streitereien mit dem Anne-Frank-Fonds, der die Rechte an dem Tagebuch hält. Tatsächlich scheint es gerade eine „Anne-Frank-Renaissance“ zu geben, wie der „Stern“ schreibt. Walid Nakschbandi, der Produzent des ARD-Dokudramas, ist mit seiner Firma Ave auch an einem Kinofilm über das jüdische Mädchen beteiligt, der Ende des Jahres Premiere haben soll; gerade wurde mit Lea van Acken die Hauptdarstellerin gecastet.

Während man es beim ZDF-Projekt versäumte, für den geplanten Mehrteiler das Einverständnis der Erben einzuholen, bewies die ARD mehr Sensibilität im Umgang mit dem Stoff, der übergroß ist, weil Anne Frank längst zum Denkmal für den Holocaust und die Schuld der Deutschen geworden ist. Von zu viel Ehrfurcht ist dieses herausragende Dokudrama aber frei: Es ist eine sorgsam kluge Montage von Spielszenen und Zeitzeugen-Interviews und holt die Ikone Anne Frank von ihrem hohen Sockel herunter ins Hier und Jetzt.

Der verunsicherte Vater

Wie der Titel nahelegt, stellt der Film die Vater-Tochter-Beziehung in den Mittelpunkt. Otto Frank kehrt als einziger der vierköpfigen Familie lebend aus dem Vernichtungslager zurück; sein Weg führt ihn zurück in das fünfzig Quadratmeter große Hinterhaus, in dem sich die Franks sowie die Familie van Pels und der Zahnarzt Dr. Pfeffer mit Hilfe von Otto Franks Sekretärin Miep Gies versteckt gehalten hatten, bis sie an die Nazis verraten wurden. Von wem, ist bis heute nicht bekannt. Der Film deutet mehrere Möglichkeiten an: der schnüffelnde Lagerverwalter, die misstrauische Putzfrau, der Antisemit Tonny Ahlers, der Otto Frank erpresste und gegen Geld Juden an die Nazis verriet.

Das rot-weiß-karierte Tagebuch, das die mutige Miep Gies (Renate Regel) dem Heimkehrer Otto Frank in die Hand drückt, ängstigt ihn zunächst – Götz Schubert kehrt nuanciert die seelische Zerstörung dieses hochanständigen Mannes hervor, der selbst gegenüber seinem schlimmsten Feind noch Contenance bewahrt. Doch Frank erkennt bei der Lektüre die Bedeutung des Tagebuchs als Vermächtnis und widmet sich fortan der Veröffentlichung. Dass er als Zensor eingreift und Stellen wegstreicht, in denen Anne sich negativ über ihre Mutter äußert oder in seinen Augen zu offen von ihrer erwachenden Sexualität berichtet, verschweigt der Film nicht.

Die tief denkende, tief fühlende Tochter

Die Ausweitung des Blicks auf den Vater ist ein wirksamer dramaturgischer Schachzug des Regisseurs Raymond Ley – schon allein, weil dadurch Gewicht abfällt von der ungeheuren Bürde der Darstellung des Mädchens Anne Frank, die von der achtzehnjährigen Mala Emde, einer noch unbekannten Frankfurter Schauspielerin, bravourös gemeistert wird. Sie strahlt bei aller Zartheit die große innere Stärke aus, die man als Tagebuch-Leser unweigerlich in Anne Frank erkennt. Zugleich wird durch die Schilderung der Beziehung zum Vater dessen Tochter noch lebendiger und berührender. Der Zuschauer folgt Otto Frank, wie er die Gedankenwelt seiner Jüngsten „entdeckt“: „Ich wusste gar nicht, dass meine kleine Anne so tief war.“ Man sieht, wie er Freunden aus dem Tagebuch vorliest oder wie er selbst sie in Erinnerung hat: Anne im Badeanzug am Strand, in die Kamera lachend. Was für ein Mensch diese Anne war und wie der Alltag im Versteck – davon erzählen aber vor allem jene Spielszenen, die auf dem ungekürzten Tagebuch selbst basieren.

Wenn Anne am Schreibtisch sitzt, spricht sie die Sätze, die sie gerade schreibt, laut mit. Wenn sie davon berichtet, wie Juden immer mehr drangsaliert werden, gerät die Wand ihrer Kammer zur Leinwand, auf die dokumentarische Schwarz-Weiß-Aufnahmen projiziert werden. Wenn sie, auf dem Bett liegend, sich aus der Enge, der Not und der Angst des Verstecks in die Freiheit und in die Zukunft hinaus träumt, wirft Ley versöhnliche Naturaufnahmen auf die Wand. So entsteht das Porträt eines ganz normalen Teenagers in einer abnormal unmenschlichen Situation: lebhaft, klug, im Kopf so schnell wie mit dem Mundwerk, mal aufmüpfig, mal viel zu erwachsen. Ein Kind, das die Nerven seiner Mitbewohner strapaziert, eine Pubertierende, die darunter leidet, die Mutter nicht so wie den Vater lieben zu können, ein Teenager, der sich – fast schon vorsätzlich – in Peter, den Sohn der van Pels‘, verliebt.

Auf Gleisen balancierend

Was sie aufrecht hält, ist ihr Traum, Schriftstellerin zu werden und der Welt von ihrem Schicksal zu berichten. „Ich will fortleben, auch nach meinem Tod“. Das ist der Ursprung ihres Vermächtnisses und gleichzeitig das Leitmotiv des Films. „Dieses Träumen wollte ich zeigen, diese ,Zuflucht‘ in Annes Kopf“, so Raymond Ley.

Der Film springt zwischen Zeitebenen hin und her, vollzieht Perspektivwechsel und unterbricht die fiktionale Erzählung passgenau mit Aussagen von Zeitzeugen, die Ley in aller Welt aufgesucht hat. Eine weitere Dimension erhält der Film durch einen zusätzlichen Handlungsstrang: Nach dem Krieg besucht ein Journalist (Axel Milberg) den Oberscharführer Karl Silberbauer (Felix Römer), der die Franks am 4. August 1944 verhaftete: Die Kaltschnäuzigkeit des Nazis lässt einen erschaudern.

Am Schluss erspart der Film dem Zuschauer zunächst das Grauen, das auf Anne Frank in mehreren Konzentrationslagern wartet. Stattdessen sieht man sie auf Gleisen balancierend, im Regen stehend oder wie sie mit den Fingerspitzen den KZ-Stacheldrahtzaun berührt und sich fragt: „Werde ich jemals Journalistin und Schriftstellerin werden?“. Ihr Traum ist Wirklichkeit geworden, aber auf ganz andere Weise, als von ihr erhofft. Das machen die letzten Bilder des Films, es sind Archivaufnahmen, mit erschütternder Eindringlichkeit klar.