Armin Petras hat ein neues Stück geschrieben und selbst uraufgeführt: In den Münchner Kammerspielen zeigt er „Buch (5 Ingredientes de la Vida)“. Darin schlüpft er in die Haut eines Elefanten. Im Herbst kommt seine Inszenierung auch in Stuttgart heraus.

Stuttgart - Es wird an diesem Abend viel geboten auf der Bühne. Was genau, weiß man als Zuschauer freilich nicht immer. Man muss dechiffrieren und assoziieren, analysieren und kombinieren, abstrahieren und fantasieren – und als wär’s noch nicht genug der Mühe, sollte man auch noch höllisch auf die Textfluten aufpassen, die mit zunehmender Wucht vier Stunden lang gegen den ohnehin vollbeschäftigten Kopf anbranden. Tut man’s nicht, dann geht man an diesem Abend der großen Ambitionen nicht nur baden, sondern unter.

 

„Buch (5 Ingredientes de la Vida)“ heißt das jüngste Stück von Fritz Kater. Hinter dem Autorenpseudonym verbirgt sich der Stuttgarter Theaterintendant Armin Petras, der sein neues Werk jetzt in München selber uraufgeführt hat, als Koproduktion mit dem hiesigen Schauspiel, wo die „5 Lebenszutaten“ im Herbst rauskommen werden. Angekündigt als „Opus magnum“ des regieführenden Dramatikers, umspannt das rätselhafte „Buch“ weite Zeiten und Räume, es spielt mit Inhalten und Formen und variiert Motive und Charaktere – eine enzyklopädische, wie im Traum unternommene Bühnenreise voll locker miteinander verknüpfter Stationen und einem Personal, dessen Artenvielfalt enorm ist. Der Reihe nach treten auf: Wissenschaftler auf einem Kongress im Jahr 1966, Elefanten in der Steppe zwischen 1998 und 2006 und Eltern im Krankenhaus 2013. Eingefasst zwischen diesen drei Etappen, in Akt zwei und drei, gönnt der Theatermann auch seinem untergegangenen Heimatland noch einen zärtlich verzweifelten Auftritt: Die DDR, der erste Arbeiter-und-Bauern-Staat auf deutschem Boden, lässt den in Ostberlin aufgewachsenen Armin Petras nicht los.

Die massakrierte Utopie

Wenn man die Spielhalle betritt, eine Nebenbühne der Kammerspiele, findet man sich in einem leeren, unbestuhlten Raum wieder. Stehend und gehend verfolgt man Videofilme, die auf die Wände ringsum projiziert werden. Da flimmern also die besagten Wissenschaftler von 1966 vorüber, gespielt von Max Simonischek, Edmund Telgenkämper, Thomas Schmauser und Ursula Werner, ein philosophisches Quartett, das sich zu intimen Salongesprächen zurückgezogen hat. Der Ort: Arizona oder München, Petras lässt das offen, anders als das Thema, das sehr bestimmt „Utopie“ heißt. Qualmend und trinkend diskutieren die Gelehrten die technisch-sozialen Bedingungen eines Paradieses auf Erden, so hohl und selbstverliebt, dass ihrem Endlospalaver ein jähes Ende bereitet wird. Die sie bisher mit Drinks und Erotik versorgenden Playboy-Häschen, die Stuttgarter Schauspielerinnen Anja Schneider und Svenja Liesau, können die Expertengockelei nicht mehr ertragen und schreiten zur Tat. Mit Maschinengewehren mähen sie die Utopisten nieder und alle Utopie, das legt Petras mit diesem Massaker nahe, gleich mit.

Schnitt. Die mit historischen Zeitzeugnissen angereicherten Filme sind gelaufen, die utopiefreie Geschäftsgrundlage des „Buchs“ ist in aller Drastik gelegt. Eine neue Gesellschaft wird es ebenso wenig geben wie einen neuen Menschen, schon gar nicht dort, wo der Autor und Regisseur seine Jugend verbracht hat. Weil Petras in jedem der fünf Akte einen anderen ästhetischen Zugriff ausprobiert, folgt auf die groteske Wissenschaftsfarce nun eine naturalistische Milieustudie – und auf München oder Arizona, via Leinwand angezeigt, die Berliner S-Bahnhaltestelle Ostkreuz, 1974, mit live auftretenden Spielern. Ohne ins peinlich Infantile abzurutschen, spielen Ursula Werner und Thomas Schmauser zwei Kinder, die auf ihre Mutter warten – vergeblich. Mutter hat mit dem Auto in den Westen rübergemacht, und Vater liegt als Alkoholiker im Sanatorium. Im tiefsten Berlinerisch versucht die Schwester, ihren Bruder über den Verlust der Eltern hinwegzutrösten. Und das Einzige, was hilft, sind die Erzählungen, die sie ihm auftischt, Märchen von hell leuchtenden Sternen am Firmament und Dämonen, die finster zwischen Bahngleisen umhergeistern. Wenn die Utopie versagt, selbst in der Kleinstform einer intakten Familie, hilft nur noch die Fantasie – das ist die zweite Lehre, die Petras aus der Geschichte zieht und im dritten Akt weiter ausführt. Im Spiegelsaal darf man sich jetzt setzen.

In der Haut des Elefanten

Aber was noch schöner ist: sämtliche Darsteller stehen mit ihrem Spielwitz für die beschworene Kraft der Fantasie ein, denn wenn sich zehn Jahre später, 1984 und noch immer in der DDR, Max Simonischek und Svenja Liesau, Edmund Telgenkämper und Anja Schneider ineinander verlieben, brauchen sie zur Herstellung ihres Jugendidylls nur eine Wasserflasche. Sie schütten deren Inhalt auf den Boden – und schon ist er da, der Badesee, in den die Jungs und Mädchen mit ausgelassener Freude springen, um pantomimisch durch eine Sommernacht zu schwimmen, auf den „der schönste Morgen ihres Lebens“ folgt. Trotzig boxen sie sich mit viel Sex & Drugs & Rock ’n’ Roll sowie einer Dosis Expressionismus durch die Alltagstristesse – und so wie hier, in den von Petras vermutlich autobiografisch eingefärbten DDR-Szenen, glänzen die Spieler auch im nächsten Akt, wo das entfesselte Assoziationsgewitter des „Buchs“ bis ins südliche Afrika reicht.

Was Petras nun an dieser Station seines wuchernden Traumtrips macht, zeugt von einiger Kühnheit. Er schlüpft als Erzähler in die Haut der Elefanten von Tansania und bündelt in einer Tierfabel nochmals die wesentlichen Motive seines Lebensdramas. Geburt und Tod, Liebe, Verlust und Trauer, dazu die Sehnsucht nach dem „stillen Land“ genannten Utopia: das beschreibt er strikt aus der Perspektive einer Elefantenkuh, die von „Schraubenfliegern aus Eisen“ gejagt und erlegt wird. Und Svenja Liesau spielt diese Dickhäuterin auf eine Weise, die jede Lächerlichkeit, jeden Vermenschlichungskitsch vermeidet, begleitet von einer Choreografie, worin der Mensch zur Bestie wird. Die Spieler donnern ihre Lederjacken auf den Boden – und dieser Gewaltexzess der Wilderer, mit simplen Mitteln herbeigespielt, gehört zu der Reihe jener Passagen, die das Publikum über Schwächen von Stück und Regie hinwegtragen. Bisweilen ist Kater/Petras nämlich so sehr in seine Skizzen zur Welterklärung verliebt, dass er Verstiegenheiten nicht mehr wahrnimmt – und was ein inhaltliches Problem ist, gerät auf Dauer auch zu einem zeitlichen: Die vier Stunden der Inszenierung sind eine zu viel.

Intendant auf Reisen

Aber warum bloß wird dieses „Opus magnum“ in München uraufgeführt? Und nicht in Stuttgart, wo Armin Petras immerhin einen gut dotieren Arbeitsplatz als Intendant hat? Der Chef am Eckensee bringt in der aktuellen Saison fünf Inszenierungen raus, vier davon auswärts. Er ist viel auf Reisen, demnächst in Rumänien – und schaut man auf die kapitalen Flops im Stuttgarter Schauspiel der jüngsten Zeit, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, der hier und dort beschäftigte Petras vernachlässige sein Stammhaus. Dass das „Buch“ im Herbst nach Stuttgart kommt, ist deshalb das Mindeste, was man erwarten darf – auch deshalb, weil es in dem Opus noch eine Menge zu dechiffrieren gibt.