Arte weigert sich, eine Dokumentation auszustrahlen, die den aktuellen Antisemitismus in Europa aufspürt. Begründung: der Film sei einseitig und unprofessionell. Nun wehren sich die Berliner Filmautoren. Historiker und Journalisten unterstützen sie und fordern, den Film doch zu zeigen.

Berlin - Es ist ein ganz normaler Tag in Deutschland im Jahr 2016, und durch die Straßen der Hauptstadt zieht mal wieder eine pro-palästinensische Demo. Die Kamera zeigt Transparente, sie zeigt Menschen, die Parolen skandieren. Und dann erklärt eine junger Mann seelenruhig, Israel sei ein Konstrukt des Imperialismus an dessen Stelle ein multiethnischer Proletarierstaat treten müsse.

 

Anderer Tag, andere Stadt, anderes Publikum: Kirchentag 2015 in Stuttgart. Dort präsentieren sich auch einige der geschätzt tausend propalästinensischen NGOs. Eine Frau mit kurzem grauen Haar, Aktivistin des Ökumenischen Begleitprogramms für Israel und Palästina erklärt in die Kamera, Israelis würden jetzt mit Palästinensern verfahren, wie „mit ihnen verfahren“ worden sei – denn sie steigerten sich in die Opferpsyche hinein. Es ist völlig klar, die Frau redet gerade vom Holocaust: „Da hat sich einfach das Opfersein tief in die Seele eingegraben.“

Noch ein Szenenwechsel: Europaparlament, Juni 2016. Der Palästinenserpräsident Mahmud Abbas hält eine Rede, in der er behauptet, israelische Rabbiner hätten die Regierung aufgefordert Brunnen im Westjordanland zu vergiften. Der Jude als Brunnenvergifter – ein antisemitisches Motiv mit langer Geschichte. Die Kamera zeigt die Abgeordneten. Keinerlei Empörung, stattdessen Applaus am Ende, die Parlamentarier stehen auf dafür. Ein „anregender“ Vortrag, twittert der damalige Parlamentspräsident und heutige SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz.

Der Vorwurf lautet: mangelnde Ausgewogenheit

All diese Szenen könnten Fernsehzuschauer sehen – wenn denn der Sender Arte sich entschließen würde, die TV-Dokumentation „Auserwählt und ausgegrenzt – der Hass auf Juden in Europa“ auszustrahlen. An sich war das auch der Plan. Schließlich hat der Sender diese Dokumentation bestellt, und mitfinanziert wurde sie im Auftrag des WDR.

Aber Arte wird den Film nicht zeigen. Das geht aus einem Schreiben des Programmdirektors an die Autoren der Dokumentation, Sophie Hafner und Joachim Schröder von der Münchner Film- und Fernsehproduktionsgesellschaft Preview Production hervor, das vom Programmdirektor Alain Le Diberder unterzeichnet ist und dieser Zeitung vorliegt.

Die Begründung des Senders ist eine formale: Der fertig gestellte Film entspreche in wesentlichen Punkten nicht dem Projekt, das die Programmkonferenz genehmigt habe. Der Film liefere keinen Überblick über die Lage in Europa, so lautet ein Grund. Der andere: Der israelische Islamismusexperte Ahmad Mansour, der die „Ausgewogenheit“ des Films habe garantieren sollen, habe im Verlauf des Projekts vom Co-Autor zum Berater gewechselt.

Die Franzosen empfinden den Film als „anti-muslimisch“

Das mag rein faktisch zutreffen, wer aber den Film gesehen hat, für den muten die Argumente seltsam an – ein Vehikel, um jede inhaltliche Auseinandersetzung zu vermeiden. An anderer Stelle in dem Brief wird auch deutlich, dass es zumindest im Vorfeld eine Kontroverse dieser Art gegeben haben muss; von mehrfacher Überarbeitung des Projekts und einem „ausdrücklich negativen Votum“ der französischen Konferenzmitglieder ist die Rede.

Es scheint, als habe sich nach den Terroranschlägen auf die Redaktion der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ und den koscheren Supermarkt in Paris Angst durchgesetzt. Ein Jahr lang habe man zusammen mit der zuständigen Redakteurin für den Auftrag gekämpft, sagt die Autorin Sophie Hafner – und kurz vor Abnahme des Films hätten sie dann Zeichen aus dem Sender erreicht. Der Film schütte angesichts der Terrorgefahr in Frankreich Öl ins Feuer, habe es hinter vorgehaltener Hand geheißen, er sei nicht ergebnisoffen, sondern antimuslimisch und proisraelisch.

Auch in Gaza gibt es erstaunlich vornehme Hotels

Was daran stimmt: Die Autoren nehmen eine bestimmte Erzählhaltung ein – sie beschäftigen sich in der Tat nicht mit Antiislamismus, sondern untersuchen genau das, was sie ankündigen: die Stereotypen des modernen europäischen Antisemitismus, der sich nicht nur in Hakenkreuzschmierereien ausdrückt, sondern sich als Antizionismus bei Pegida, AfD und Querfront findet und auch innerhalb von Teilen der muslimischen Einwanderergesellschaft. Gedreht haben sie für ihr bedrückendes Roadmovie in Deutschland, Frankreich, Israel und Gaza.

Seltenheitswert haben die Bilder aus Gaza, die das Klischee vom perspektivlosen Leben im Elend teilweise konterkarieren und den Blick auf einen Teil der Bevölkerung richten, der sonst nicht oft in Medien oder über Hilfsorganisationen zu Wort kommt: Da werden Studenten vor einer der vier Universitäten interviewt, die sich kritisch über die Hamas äußern, über die dunklen Kanäle, auf denen Hilfsgelder für den Gazastreifen verschwinden, und die eine Zwei-Staaten-Lösung als wünschenswert bezeichnen. Man wird Zeuge eines Treffens mit einem Hamas-Politiker in einem erstaunlich feinen Hotel am Mittelmeer, der lächelnd erklärt, dass Jerusalem in Gänze zu einem palästinensischen Staat gehören muss.

Kritiker fordern eine offene Diskussion

Um ihren sehr sehenswerten Film kämpfen die beiden Autoren – und erhalten dabei inzwischen die Unterstützung mehrerer namhafter Nahost- und Antisemitismusexperten. Dazu gehören der Historiker und Kolumnist dieser Zeitung, Götz Aly, der Historiker Michael Wolffsohn, der Filmemacher Samel Schirmbeck und der Islamismusexperte Mansour. Der Film sei „überfällig“ urteilt dieser. „Natürlich ist manches unbequem“, schreibt Mansour. Der langjährige ARD-Nahost-Korrespondent Schirmbeck urteilt, der Film sei von Anfang bis Ende plausibel, rücke Unbekanntes und Verdrängtes in den Vordergrund – einen „Boykott“ des Films vergleicht er mit dem Boykott israelischer Produkte.

Wolffsohn nennt den Film „die mit Abstand klügste und historisch tiefste, zugleich leider hochaktuelle und wahre Doku zu dem Thema“. Wenn die Doku nicht ausgestrahlt werde, fordere er dazu eine öffentliche Diskussion ein, so Wolffsohn. Die Filmemacher haben in einem Schreiben den WDR gebeten, die Ausstrahlung des Filmes zu übernehmen, wenn Arte dies nicht wolle. Bisher ohne Erfolg.