Der Wirtschaftsboom in Asien mischt den Antiquitätenmarkt auf. Superneureiche Chinesen kaufen Kostbarkeiten aus den Kaiserpalästen, die in der Kolonialzeit über die ganze Welt verstreut wurden. Eine der ersten Adressen für sie ist das Stuttgarter Auktionshaus Nagel.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Stuttgart - Die Gasfackeln am Portal spucken Feuer. Ein äußeres Zeichen, dass innen der Kampf um die Kostbarkeiten begonnen hat. In Stuttgart ist es elf Uhr am Vormittag, in China früher Abend. An den Flanken des Auktionssaals sitzen wie im Callcenter ein Dutzend Mitarbeiter an Telefonen. Die Hotlines nach Peking und Hongkong stehen. Viele Großsammler schauen auch persönlich vorbei oder schicken jemanden. Man weiß das nie so genau. Die Händlerdynastie Chack mischt immer und überall mit – meist im Auftrag superreicher Festland-Chinesen, die lieber im Hintergrund bleiben wollen.

 

460 000 Euro: eine Frau am Telefon streckt wie in der Schule, ihr Kunde in Peking erhöht. Der Großbildschirm im Saal zeigt das Objekt, um das es geht, dazu den aktuellen Preis umgerechnet in US-Dollar, Pfund, Rubel, Yen, Honkong-Dollar und chinesische Renminbi. Versteigert wird eine 17 Zentimeter hohe, feuervergoldete Bronze aus dem 15. Jahrhundert. Sie stellt Yamantaka dar, eine Gottheit aus dem tibetischen Buddhismus. Das Einstiegsgebot lag bei 50 000 Euro. Etwa zehn Leute haben sich eine Weile gegenseitig hochgetrieben, bis irgendwann allen die Luft ausging. Jetzt sind noch zwei Sammler im Rennen, die erst jenseits der 400 000-Euro-Marke überhaupt mal in das Geschehen eingriffen. Der eine sitzt in Peking, der andere in einer mittleren Saalreihe.

480 000 Euro: der büffelköpfige Yamantaka hat den Todesgott Yama bezwungen und zählt zu den acht Bluttrinker-Gottheiten. Viele Jahrzehnte erfreute sich ein Liebhaber in Brüssel an der Figur, in der die zornvolle Seite des Weisheits-Buddhas Manjushri zum Vorschein kommt. Dann starb er. Sein Enkel, ein Diplomat, löste die Sammlung auf, schickte Fotos von ein paar Figürchen nach Stuttgart. Der Yamantaka war auch dabei. Zwar fehlen ihm sechs Arme und der Sockel, aber bei Nagel erkannte man gleich: das Ding könnte ein echter Knaller werden, ein China-Kracher.

Ein Kopfnicken genügt

490 000 . . . 500 000 . . . 510 000 – der Auktionator spricht leise und dezent wie ein Schiedsrichter bei der Billard-WM. Alles geht sehr cool über die Bühne. Der Mann im Saal signalisiert mit fast unmerklichem Kopfnicken: höher. „Five hundred twenty thousand . . . once . . . twice . . . sold for five hundred twenty thousand.“ Verkauft für 520 000 Euro. Applaus im Saal. Der büffelköpfige Yamantaka geht an den chinesischen Herrn im Saal, dessen Alter schwer zu schätzen ist und an dem äußerlich so gar nichts auf einen Milliardär schließen lässt. Rechnet man die Provision für Nagel dazu, kostet der kleine Yamantaka den Mann genau 691 600 Euro.

Wieder ein gutes Geschäft für das Haus Nagel. So geht es weiter an diesem Samstag. Der Saal in der Neckarstraße ist prall gefüllt mit knapp 150 Leuten, einige müssen im Vorraum stehen. Außer ein paar hiesigen Damen, die sich in Festtagsgarderobe geschmissen haben, sieht man nur Chinesen. Und die kleiden sich nicht anders als bei einer Sightseeingtour durch Rothenburg ob der Tauber. Im Foyer türmen sich Koffer wie am Busbahnhof. Die meisten sind nur wegen der Auktion nach Stuttgart gereist. Danach geht es gleich weiter. Auktionshäuser legen ihre Termine gerne so, dass die Chinesen eine kleine Einkaufstour durch Europa machen können. Wo sie doch schon mal da sind.

Sie sind höflich, bedanken sich für jede Kleinigkeit mit einer Verbeugung. Sie sprechen kein Deutsch, kein Englisch und tippen unablässig in ihre Handys. Wenn man so ringsum auf ihre Displays spickt und überall völlig rätselhafte Schriftzeichen erkennt, fühlt man sich etwas einsam im Saal. Einer setzt sich auf ein Bett mit Jadeschnitzereien, das mit 35 000 Euro angesetzt ist. Einer macht ein Nickerchen auf dem Sofa der späten Qing-Dynastie.

Die feine Teeschale aus der Qianlong-Periode

Ein Herr mit goldenem Löwenkopfanhänger am Hals schlürft eine weiche Birne, während der Herr drei Plätze weiter auf die feine Teeschale mit Pfingstrosendekor aus der Qianlong-Periode (1711–1799) bietet. Die Blume verkörpert den Frühling, ein beliebtes Motiv. Ungewöhnlich aber ist: der Dekor zieht sich vom Fuß über den Rand bis ins Innere der Schale. Der Frühling kommt herein – in die Schale, in das Haus, in die Seele. Keine weltbewegende Symbolik vielleicht, aber in ihrer Einfachheit und Eleganz doch wunderschön. Einem Herrn aus Hongkong ist sie 100 000 Euro wert. „Die Pfirsiche des langen Lebens“, ein ätherisches Bild von Qi Baishi (1864–1957) geht für 280 000 Euro weg. Immer noch ein Klacks gegen die 65 Millionen Dollar, die seine Zeichnung „Adler, auf einer Kiefer stehend“ 2011 in Peking einbrachte.

Der Wirtschaftsboom hat viele Chinesen in den vergangenen Jahren unglaublich reich gemacht. Ihre Schatzkammern bestücken sie nun mit chinesischer Kunst und Antiquitäten. Allein in Peking eröffnen jährlich 10 000 neue Händler. Es gibt Fabrikanten, die zwacken sich in jedem Quartal fünf bis zehn Millionen Euro ab, um Prachtstücke, die während der Kolonialzeit über die ganze Welt verstreut wurden, wieder ins Reich der Mitte zu holen. Alte Kunst ist auch zum Ausdruck eines neuen Standesbewusstseins geworden: Wer sich die zehn Höllenkönige auf einer 400 Jahre alten Seidenmalerei oder einen Bronze-Buddha aus der frühen Ming-Dynastie leistet, stellt in Peking einen sehr vornehmen und modernen Lifestyle unter Beweis.

Aber nur aus Patriotismus, zum Angeben oder wegen der ästhetischen Anmutung kauft keiner eine Vase. Sie muss schon eine Wertanlage sein und das Zeug dazu haben, noch weiter im Preis zu steigen. Nagel hat da immer etwas Passendes.

Mehr als 30 Millionen Euro Umsatz

Das Haus ist weltweit eine der ersten Adressen auf dem Asiatika-Markt, erwirtschaftete vergangenes Jahr mehr als 30 Millionen Euro Umsatz. Nagel hat Repräsentanzen in Hongkong und Peking, ist international vernetzt. Das Firmenherz schlägt immer noch in Stuttgart, wo der Kunsthändler Fritz Nagel 1950 die erste Nachkriegsauktion im Land organisierte. Er und sein Antiquitätenladen in der Breitscheidstraße waren Institutionen in der Stadt. Später legte er das Auktionsgeschäft in die Hände seines Sohnes Gert K. Nagel, der den guten Ruf des Hauses mehrte und ihm heute noch als Gutachter verbunden ist. 1990 übergab Nagel die Firma an seinen Mitarbeiter Robin Straub. Nach Straubs Tod im Jahr 2004 wurde aus dem inhabergeführten Unternehmen eine Gesellschaft.

Tradition schafft Vertrauen. Und einem deutschen Auktionshaus gewährt man in China schon an sich einen Vertrauensvorschuss. Die Chinesen haben nicht vergessen, dass sich die Deutschen im Zweiten Opiumkrieg 1860 nicht an den entehrenden Plünderungen des Sommerpalastes mit seiner kostbaren Bibliothek und den prunkvollen Gärten des Ewigen Frühlings und der Vollkommenen Klarheit beteiligten. Englische und französische Truppen fügten dem Land damals eine tiefe Kränkung zu, die bis heute nachwirkt.

Spätestens seit der Jahrtausendwende ist das Asiengeschäft die Nummer eins bei Nagel. Wegen einer alten Dschunke! Die Tek Sing war 1822 auf dem Weg nach Indonesien gesunken. Vor 15 Jahren barg man sie. Noch nie wurde eine größere Ladung Porzellan aus dem Meer geholt. Nagel sicherte sich die Fracht, brachte sie in einem sieben Tage und sieben Nächte dauernden Auktionsmarathon unter das Volk.

Vier Jahre später der nächste Coup mit einer kaiserlichen Vase aus der Yongzheng-Zeit (1723–1735): Sie war zunächst auf 60 000 Euro taxiert. Robert Chang, ein berühmter Sammler, saß in Stuttgart und stieg sofort mit 500 000 Euro ein. Von der Stille im Saal, die danach einsetzte, erzählt man sich heute noch. Doch das war noch nicht das Ende. Am Telefon hielt einer mit: Alan Chuang, einer der reichsten Hongkong-Chinesen und Besitzer ganzer Hochhausketten gab nicht nach, bis er das Ding hatte. Es kostete ihn 1,06 Millionen Euro. Im Mai 2013 folgte das bisherige Highlight: ein 300 Jahre altes Doucai-Weinkännchen ging für 3,73 Millionen Euro weg. Eine echte Rarität: der Doucai-Dekor mit seinen extrem aufwendig gebrannten Schmelzfarben war ausschließlich für den Kaiserhof bestimmt. Der Verkäufer, ein Sammler aus dem Rheinland, hatte das gute Stück einst für 45 000 Mark erworben.

Der Euphorie folgt oft die Kaufreue

Auktionshäuser profitieren auch davon, dass sich Chinesen gern zu hitzigen Bieterduellen hinreißen lassen. Bei begehrten Stücken will dann keiner nachgeben, man steigert sich gegenseitig so hoch, bis es schon nicht mehr um die Vase geht, nur noch darum, den anderen zu bezwingen. Bei hochpreisigen Objekten müssen inzwischen 50 000 Euro Kaution hinterlegt werden. „So groß die Euphorie beim Zuschlag, so groß ist oft die Kaufreue beim Bezahlen“, sagt Michael Trautmann. Der 48-Jährige ist Leiter der Asia-Abteilung, weltweit geschätzt und umworben wegen seines Wissens und Gespürs. Als BWL-Student und blutiger Antiquitäten-Anfänger schnupperte er einst bei Nagel rein – und blieb. Er sog alles in sich auf, was ihm Sammler, Händler, Künstler ans Herz legten, investierte sein Gehalt in Fachliteratur, erschloss sich über viele Jahre hinweg eine neue Welt. Chinesisch spricht er immer noch nicht, und fernöstliche Denkart wird er nie bis ins Letzte verstehen, „aber wenn ich heute bei Kunden einen Schrank öffne, kann ich sofort sagen, was da für ein Marktwert drin steht“.

Oder der Schrank selber ist der Schatz – wie vor ein paar Jahren, als ihm Sammlererben altes Porzellan anboten, Trautmann in den Kinderzimmern dann ein Paar drachenbesetzter Zitan-Schränke aus der mittleren Qing-Dynastie (1644–1912) entdeckte. Sie erzielten schließlich 2,1 Millionen Euro. „Manches Objekt mag man als Europäer zunächst vielleicht als kitschig ansehen, aber wenn man seine Geschichte kennt und seinen Hintergrund versteht, wird es von ganz alleine schön.“

Auf dem Höhepunkt der Welle vor fünf Jahren ersteigerten chinesische Kunden für unermesslich viel Geld alles, was ihnen in die Hände kam. Heute sind sie wählerischer und besser informiert. Während der Vorbesichtigungszeit verbringen Sammler oder entsandte Experten ganze Tage im Stuttgarter Ausstellungssaal. Viele sehen aus, als seien sie noch nicht lange volljährig. Aber sie wissen genau Bescheid, durchleuchten jedes Teil, gehen ihm mit Lupe und Taschenlampe auf den Grund, fassen es von allen Seiten an, prüfen jede Rundung, jede Kante, fragen die Experten von Nagel aus. Selbst für chinesische Mitarbeiterinnen wie Heng He eine Herausforderung: „Nicht jeder Kunde beherrscht Mandarin-Chinesisch, und die Dialekte aus den Provinzen sind zum Teil wie eine andere Sprache“, sagt die 37-Jährige.

Die vier Gelehrten mit ihren Geliebten

Sie ist in einer kleinen Stadt in der Provinz Sichuan geboren. Die kleine Stadt, von der sie spricht, hat eine halbe Million Einwohner. Ihr Großonkel war Professor für Völkerkunde und meinte, das wäre auch etwas für sie. Das Studium führte sie nach Tübingen, seit 2008 ist sie bei Nagel angestellt. Hier kann sie in ihrer Kultur baden.

Sie zeigt vier Porzellantafeln, auf denen die vier berühmten Gelehrten mit ihren „Geliebten“ dargestellt sind, wie es im Katalog übersetzt ist: Wang Xizhi mit Gans, Su Dongpo mit Tuschstein, Tao Yuanming mit Chrysantheme, Lin Hejing mit Kranich. Jede Tafel ziert ein Gedicht in vier Sätzen. Bei Lin Hejing, dem großen Einsiedler und „Hain der Harmonie“, wie er genannt wird, ist zu lesen: „Nach dem Schnee kommt die Sonne. Ein Mann geht mit Kranich und Wanderstock nach Hause. Er hat Wein getrunken. Wie die Pflaumenblüte im Winter, so soll auch der Mensch sein Leben in Zuversicht bestreiten.“ Im Daoismus ist damit die ganze Welt erklärt.

Noch gibt es vor allem in Süddeutschland bedeutende asiatische Privatsammlungen, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Aber der Nachschub wird dünner. Um Aufsehen erregende Stücke zu kriegen, verzichten manche Auktionshäuser inzwischen schon auf die Provision. Bei Nagel will man auf lange Sicht die Chinesen mehr mit europäischer Kunst anfreunden, sie für Louis-Quinze-Kommoden oder die Flämische Schule begeistern. Noch sind es allein die Asiatika-Auktionen, die mit zweistelligen Millionenumsätzen schließen.

Die Tuschezeichnung „Pflanze eine Melone, ernte eine Melone“ von Feng Zikai (1898–1975) hat für 40 000 Euro ein neues Zuhause gefunden. Sie zeigt zwei Kinder, die eine fette Wassermelone vom Feld nach Hause schleppen. „Der Künstler war auch Pädagoge, sein Lieblingsthema waren Kinder“, erklärt Heng He. Das will uns die Zeichnung sagen: Schenkt man einem Kind eine gute Bildung, ist die Saat für ein gutes Leben gelegt. Aus Fleiß und Anstrengung erwachsen fröhliche und gute Menschen. Es ist Heng Hes Lieblingsbild.