Vier Stative begrenzen vor dem Podium der Richter im Stammheimer Gerichtssaal ein Rechteck. In dem steht ein Kriminaltechniker des Landeskriminalamtes (LKA): Ein Kästlein vor den Augen, die in seinen Händen erinnern an Fernbedienungen. Auf den überdimensionalen Bildschirmen an den Seitenwänden des Gerichtes sind Gräber zu sehen. Eine Aussegnungshalle, Gießkannen neben Wasserhähnen. Im Stuttgarter Landgericht ist die Zukunft angekommen.
Spezialisten des LKA vermaßen im vergangenen Juni den Friedhof in Altbach mit 3D-Lasern, nachdem ein Attentäter dort eine Handgranate auf eine Trauergemeinde warf. Zahlreiche Menschen wurden verletzt. Am siebten Verhandlungstag zu dem Anschlag wird der ganze Tatort ins Gericht transportiert. „Gehen Sie einmal zur Stelle, an der die Handgranate detonierte“, weist Richter Norbert Winkelmann den Kriminaltechniker an, der eine sogenannte VR-Brille vor den Augen trägt. Die beiden Linsen vor seinen Augen simulieren dem Kriminalisten, leibhaftig auf dem drei-dimensionalen Friedhof zu sein: virtuelle Realität (VR) in der Rechtsprechung.
Im Verfahren um den Handgranatenwurf auf dem Friedhof in Altbach holten sich die Richter den Tatort in den Gerichtssaal. Eine neue Technik macht möglich, dass sie aus der Sicht von Tätern und Zeugen Straftaten rekonstruieren können.
Auf dem Bildschirm verfolgen Prozessbeteiligte und -beobachter, wie der Techniker um Bäume herum auf einen Weg geht und genau dort stehen bleibt, wo am 9. Juni 2023 eine jugoslawische M-75-Handgranate explodierte: Vor sich die Balustrade, über die die drei Giebel der Aussegnungshalle aufragen. Links ein Wasserhahn, neben dem an einem Gestell Gießkannen hängen. Ein Stück weiter ein Grab. Unter den Füßen grauen Teer mit einer Delle. „Wie weit ist die Balustrade vom Explosionsort entfernt?“, will Winkelmann wissen. Der Techniker richtet seine Fernbedienung auf die Mauer mit dem Metallzaun auf der Krone, geht virtuell dorthin, um eine Markierung am Fuß der Balustrade anzubringen: „14 Meter 485“ zeigt das Metermaß bei einem ebenfalls virtuellen Blick über die Schulter.
Auf dem Großbildschirmen erscheinen drei Halbkugeln: Die Radien, in denen die etwa 3000 Kügelchen, die in den Mantel einer M-75-Granate eingegossen sind, tödlich wirken und verletzen. Auch bis zur etwa 20 Meter entfernten Aussegnungshalle konnten die Splitter geschleudert werden, aus der bei der Trauerfeier der Sarg geschoben wurde.
Richter werden zu Mördern, Staatsanwälte zu Zeugen
Was konnte der Angeklagte aus seiner mutmaßlichen Perspektive sehen? Auf den Bildschirmen erscheinen 1,80 Meter große Menschen. Aus den denkbaren Perspektiven des Attentäters zu erkennen. Die Trauergäste selbst konnten den mutmaßlichen Angreifer nur sehen, wenn sie nahe der Balustrade standen.
Bereits Mitte der 2000er Jahre führte der damalige damalige LKA-Präsident Dieter Schneider 3D-Vermessungen von Tatorten ein. So erfasste er den Tatort des Amoklaufes in Winnenden 2009. Schneiders Nachfolger Ralf Michelfelder holte den sogenannte „Cave Automatic Virtual Environment“ (Cave), die „Höhle mit automatisierter, virtueller Umwelt“ im baden-württembergischen LKA ein. Nahezu gleichzeitig mit dem bayrischen LKA. Für die mobile Version der Vermessungen werden Tatorte zunächst mit 3D-Laserscannern erfasst, quasi kartografiert. Dann wird aus den Daten die virtuelle Umgebung errechnet. In die können Richter im Gerichtssaal als Mörder, Verteidiger als Zeugen, Staatsanwälte als Schaulustige eintauchen. Aussagen werden so vor Ort überprüfbar: Kann ein Zeuge das wirklich gesehen haben? Kann so geschossen worden sein?
Unter dem amtierenden LKA-Präsidenten Andreas Stenger wurde das Verfahren so weiterentwickelt, dass Beteiligte an einer Straftat mit einem Körperscanner vermessen und als Avatare, als virtuell geschaffene Personen in die 3D-Welt eingefügt werden können: als Mordopfer, als Täter, als Zeugen. „Welche Bedeutung eine Spur im Verlauf der Ermittlungen gewinnt, lässt sich zu Beginn einer Ermittlung nicht immer absehen“, sagte Stenger der Frankfurter Zeitung. Einen realen Tatort könne man nachträglich nicht wieder aufbauen, der simulierte sei immer verfügbar. „Virtuell wird der Tatort so unter authentischen Bedingungen für Kriminaltechniker, für forensische Sachverständige, aber auch Staatsanwälte und Richter begeh- und erlebbar.“
Konzentrationslager Auschwitz vermessen
Als eines der ersten Projekte vermassen die Stuttgarter Kriminaltechniker noch unter Michelfelders Verantwortung für einen Kriegsverbrecherprozess das Konzentrationslager Auschwitz. Um nachzuweisen, von welchem Wachturm aus die sogenannte Todesrampe zu sehen war, an der die ankommenden Häftlinge unterteilt wurden: Rechts die, die sofort in die Gaskammern geschickt wurden. Links jene, die vor ihrem Tod noch als Arbeitssklaven gefoltert oder für medizinische Versuche missbraucht wurden.
Genutzt wird der Cave bislang von den Gerichten nur selten. Obwohl das LKA auch den Tatort erfasste, als im April 2022 ein Reichsbürger im badischen Boxberg einen Polizisten des Spezialeinsatzkommandos (SEK) niederschoss. Die Richter des Stuttgarter Oberlandesgerichtes verzichteten darauf, sich diesen Tatort ins Gericht zu holen.
„Wir werden uns da sicherlich weiterbilden müssen“, sagte Richter Winkelmann offenbar tief beeindruckt von den Möglichkeiten des Cave. In dem hatte er virtuell den Attentäter fliehen lassen: 40 Meter bis zum Ausgang des Friedhofs, vorbei an Gräbern und Büschen. In der Realität wurde der Angeklagte dabei verfolgt von Trauergästen, die ihn wenig später ergriffen, auf ihn einschlugen und -traten, ihn schwerst verletzten.