Zum 75-Jahr-Jubiläum der Stuttgarter Zeitung stöbern wir im Archiv und präsentieren unseren Leser die originale Berichterstattung früherer Zeiten. Dieses Mal: Eine polarisierende Kritik an den Auftritt der Rolling Stones 1976 im Neckarstadion.

Stuttgart - Zweimal Feuerwerk. In Südafrika toben Straßenkämpfe, wird auf Angehörige der schwarzen Mehrheit geschossen. Mick Jagger. der millionenschwere Rock-Star, singt seinen alten revolutionären Song vom „Street-fighting man“ vor den über vierzigtausend im Stuttgarter Neckarstadion. Welche Bedeutung hat ein solcher Bezug zur Realität?

 

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Ist er ein Beweis für die Gegenwartsorientiertheit der Rock-Musik oder Zeugnis für die anwidernde Verlogenheit einer Starkultur-Industrie? Ist nicht Mick .Jagger mit seiner lasziv-erotischen Aggressivität und seinem ausgeprägten Sinn fürs große Geld selbst ein Symbol chauvinistischen Denkens, ein Herrenmensch der Rock-Kultur? Zweifellos sind faschistoide Tendenzen in der Rock-Musik heute stärker zu spüren als jemals zuvor.

Geht Mick Jagger für den Profit über Leichen?

Dies alles gehört zum Diskussionsbereich eines Oberbaus: es geht um das Image der „bösen, ungehorsamen Buben“, das den Rolling Stones seit ihrem Beginn (19622/63) anhaftet, oder besser: angeheftet wurde. Ein nicht gerade origineller, aber ungeheuer wirksamer Werbetrick. Doch diese intellektuelle Diskussion über den Revolutionscharakter kann man sich heute ersparen: selbst für denjenigen, der einst an das Rebellen-Image der Stones glaubte, ist heute, spätestens nach dem Desaster von Altamont (1969) längst klar, daß der Zynismus des Geschäftemachers Mick Jagger, der um seines Profits willen auch über Leichen geht, keine glaubwürdige politische Aussage mehr zuläßt. (Anmerkung der Redaktion: Bei dem vom Management der Rolling Stones veranstalteten Altamont Free Concert starben mehrere Menschen.)

Also sehen wir uns, den Schleier eines gewissen Mythos weggepustet, den Auftritt einer Rock-Band an, die sich selbst „die größte“ nennt. Drei Rock-Bands heizten im Stuttgarter Neckarstadion über den ganzen Nachmittag die Stimmung an, blieben, selbst wenn sie musikalisch etwas zu bieten gehabt hätten, Beiwerk. Die Meters aus New Orleans, diesjährige Stones-Tour-Begleiter, hatten mit technischen Schwierigkeiten zu kämpfen und wurden mit ihrem Afro-Disco-Sound bloß als Einheizer verschlissen. Die John Miles Band, eingesprungen für den kurzfristig abgesagten Robin Trower, boten soliden Hard-Rock mit einigen leiser tönenden Einlagen, wie man sie aus ihrem jetzigen Hit „Music was my first love“ kennt. Zum ersten Mal funktionierte die akustische Anlage richtig. Das amerikanische Sextett Little Feat fabrizierte einen unzumutbaren Lärmbrei-und mußte als einzige Gruppe des Tages eine Zugabe spielen.

So seriös wie eine große Zirkus-Show

Trotz der anbrechenden, kühlen Dämmerung ist die Stimmung nun heiß. Jeder wartet auf das Gewitter der Rollersteine. Und dann kommen sie, nach einer geradezu ungebührlich kurzen Wartezeit von einer Stunde, ganz brav daher, auf ihrer eigenen Zeltdach-Bühnenkonstruktion ganz Superstars, dem Publikum im Stadionrund entrückt.

Ihre ganze Präsentation wirkt etwa so seriös wie eine große Zirkus-Show. Das Podium ist aufgeräumt und mit diversen Laufstegen vor und über der Band versehen, eine Rampe links, rechts eine Treppe (Show, oh yeah!): genug Auslauf also für Jaggers üppigen Narzissmus. In perfektionierter Illumination kann er sich ungehemmt prostituieren; ein kabelloses Mikrofon vergrößert seine Bewegungsmöglichkeiten. Seine Beine zucken spastisch, scheinen nicht zu gehorchen, und so vibriert, stolziert und hüpft er herum, kriecht zuweilen über die Bühne, wiegt sich auf der vordersten Rampe in den Hüften, tanzt mit Gitarrist Ron Wood (von den Faces) anstachelnd nach vorn. Übrigens war der neurotische Veitstanz Jaggers auch schon mal besser.

Schlechter als jede Mittelklasse-Band

Obwohl die akustischen Verhältnisse bei dem Mammutfest im Fußballstadion eine Kritik erschweren, einige Bemerkungen zur musikalischen Entwicklung der Stones: Ihr stampfender Rock’n Roll hat seinen Reiz und seine Kraft längst verloren. Zudem war das Schlagzeug, gelinde gesagt, zu schlecht ausgesteuert, obwohl Charlie Watts sogar noch durch einen ungenannten Co-Drummer unterstützt wurde. Vielleicht lag es auch an diesem Umstand, daß schwerblütiger Blues-Rock viel besser ankam, da er sich hauptsächlich auf Ron Woods und Keith Richards Gitarren und auf Billy Preston (als Gast) am Piano stützt. Die Präsentation des Preston-Hits „Nothing from nothing leave nothing“ gehörte übrigens zu den schönsten Stücken des Festivals.

Was wahrscheinlich noch schwerer wiegt. ist die Tatsache, daß die neueren Richards-Jagger-Kompositionen absolut nichts mehr hergeben, es sei denn, man ist interessiert an Produktionen für die Diskotheken. Einige neue, langsamere Kompositionen („Fool to cry“) sind eher Langweiler ohne Pep, ohne Originalität. Alte Kompositionen, auf neu arrangiert und aufpoliert, gehörten zum Teil zu den angenehmeren Erlebnissen des Abends. „You can’t alwavs get what you want“ (1969) wird mit Wah-Wah-Gitarre und einem Streicher-Mellotron sehr langsam eingeleitet, bevor es losrockt. Andere Oldies werden im Stampfrhythmus verramscht. Aufregend jedoch ist diese Rock-Band mit Millionenumsätzen in keiner Weise, sie degeneriert zu einem Nostalgie-Club einiger gealterter Rocker.

Selbst mit dem Riesenaufwand einer ganzen Maschinerie von Organisation und Technik und mit der Unterstützung zweier namentlich nicht genannter Hilfsmusiker (womit die Band auf acht Spieler anschwillt!) bringen sie weniger zustande als jede Band der Mittelklasse. Gegen 23 Uhr ist ihre hundertminütige Rock-Show beendet, indem Mick Jagger einen Eimer Wasser über sich entleert. Zugaben sind nicht Stonesgemäß: ihr Kontakt mit dem Publikum beschränkt sich auf den Geldverkehr.

Anmerkung der Redaktion: Es handelt sich um einen ungekürzten Bericht aus Stuttgarter Zeitung vom 21. Juni 1976. Die Rechtschreibung ist weitgehend im Original belassen.