Spiel- und TV-Filme mit Echtheitsgrusel boomen. Aber wahre Ereignisse zu verfilmen, stellt eine große Herausforderung dar. Filmprofi Hark Bohm spricht über den Umgang mit der Wirklichkeit und die Freiheit der Erfindung.

Stuttgart - Von der Wirklichkeit lassen sich viele Filmemacher inspirieren. Spiel- und TV-Filme mit Echtheitsgrusel boomen. Aber wahre Ereignisse zu verfilmen, stellt eine große Herausforderung dar. Der erfahrene Regisseur, Autor und Schauspieler Hark Bohm hat als Co-Autor mit dem Regisseur Fatih Akin am vielfach preisgekrönten „Aus dem Nichts“ gearbeitet. Im Interview spricht er über den Umgang mit der Wirklichkeit und die Freiheit der Erfindung.

 
Herr Bohm, Fatih Akins „Aus dem Nichts“ wird meist als NSU-Drama bezeichnet. Aber der Film unterscheidet sich deutlich von der Realität. Wie viel Fiktion ist erlaubt, wenn man echte Ereignisse verfilmt?
„Aus dem Nichts“ ist zwar durch den NSU-Prozess initiiert worden, aber er behauptet in keinem Augenblick, dass er mehr als die Ausgangssituation mit dem realen NSU-Drama gemein hat. Fatih Akin und ich erzählen vom Opfer eines Anschlages, der durch nationalsozialistische Ideologie begründet ist. Aber wir erzählen nichts, was mit den Gerichtsprozessen in München übereinstimmen soll.
In Ihrem Film „Der Fall Bachmeier – Keine Zeit für Tränen“ erzählen Sie auch einen realen Gerichtsfall nach. Inwiefern ähneln sich die zwei Geschichten?
Ich bin selbst auf den Gedanken noch gar nicht gekommen bin, aber, ja, der Film „Der Fall Bachmeier – keine Zeit für Tränen“ hat eine ähnliche Ausgangssituation. Denn die Frau Bachmeier ist auch ein Opfer des Verlustes des Menschen, der ihr am wichtigsten und am liebsten ist. Im Fall Bachmeier habe ich tatsächlich die Teile aus der Wirklichkeit benutzt und darauf eine Geschichte gebaut. Auch da interessiert mich der seelische Prozess in dem Opfer. Die Protagonistin befreit sich zu einer unvermuteten und unglaublichen Tat. Aber es geht mir nicht darum, dass zu rechtfertigen oder zu urteilen, sondern darum, eine Geschichte zu erzählen. Dieses Gesichtspunkt trifft auch dem Film „Aus dem Nichts“ zu. Wir wollen dem Zuschauer vermitteln, aus welchen seelischen Prozessen heraus ein bestimmtes Verhalten zu erklären ist. Aber wir sagen nicht, das ist gut oder das ist schlecht. Wir treffen kein moralisches Urteil.
Welche Vorteile bietet eine Fiktionalisierung realer Lebensgeschichten?
Gar keine. Das Problem bei Drehbüchern, die man an reale Ereignisse anlehnt, ist es, die richtigen Elemente der Wirklichkeit zu finden und in eine Form zu bringen. Wenn sie eine fiktionale Geschichte haben, müssen sie sie erfinden. Auch das ist ein komplizierter geistiger Prozess. Die Geschichte in meinem Film „Nordsee ist Mordsee wurde durch die Situation ausgelöst, in der sich meine beiden Adoptivsöhne befanden. Der eine ist ein russischer Mongole, der andere ein Hamburger. Sie hatten es sehr schwierig mit einander. Aber diese Geschichte, die ich dann erzähle, hat mit dem konkreten Leben der beiden Jungs dann gar nichts mehr zu tun.
Wie war es bei Ihrem Film über einen anderen Gerichtsfall „Vera Brühne“?
Umgekehrt. Ich erzähle die Geschichte scheinbar sehr eng an der Wirklichkeit. Aber ich zeige auch die ganze Ereignisreihe vor dem Prozess. Außerdem müssen sie sich vorstellen: Allein der Prozess hat in der Wirklichkeit mehrere Monate gedauert. Ich musste aus Tausende von Gerichtsakten und aus vielen Reportagen 300 Minuten aussuchen und so gestalten, dass die innere Wahrheit erhalten bleibt. (28:05) Die Form erlaubt, dass man das sehr kurz erzählt. Dieser Prozess ist genauso anstrengend und gefährlich wie der bei „Nordsee ist Mordsee“. Mit „gefährlich“ meine ich, dass die Gefahr besteht, dass man etwas gestaltet, was unwahr wirkt, was keine innere Wahrheit mehr hat.
Wie sollen Zuschauer mit den Widersprüchen zum realen Ereignis umgehen?
Wer ins Kino geht, den Fernsehapparat einschaltet oder eine DVD einschiebt, weiß, dass er jetzt etwas Künstliches sehen wird. Ein Zuschauer, der sich auf der Straße befindet und sieht, wie ein Vater sein Kind verprügelt, ist in einer wahrnehmungspsychologischen Situation, die mit dem Kino nichts zu tun hat. Wenn er im Film eine Pistole sieht, die abgefeuert wird, hat das mit seiner Wirklichkeit auch überhaupt nichts zu tun. Er weiß, dass Pistole auf der Leinwand ist. Es mag anders sein, wenn er einen Dokumentarfilm sieht. Dann muss er darauf vertrauen, so wie der Leser einer Zeitung darauf vertraut, dass der Reporter die wesentlichen Elementen aus der Wirklichkeit in eine Gestalt gebracht hat, die der Wahrheit entspricht. Aber ein Zuschauer weiß, dass er im Kino sitzt.

Zur Person: Hark Bohm wurde 1939 in Hamburg geboren, wuchs aber auf der Nordseeinsel Amrum auf. Nach seinem Juraabschluss fing er zwar an, als Referendar zu arbeiten. Im Jahr 1969 aber wendete er sich einer Schauspieler- und Filmemacherkarriere zu. 1971 gründete Bohm gemeinsam mit anderen Filmschaffenden den „Filmverlag der Autoren“. Bohm war Darsteller in vielen Fassbinder-Filmen, u. a. „Angst essen Seele auf“, „Die dritte Generation“, „Die Ehe der Maria Braun“ und „Lola“. In den 1970er drehte er die Klassiker „Tschetan, der Indianerjunge “, „Nordsee ist Mordsee“ und „Moritz, lieber Moritz“. Bei Fatih Akins Filmen „Tschick“ und „Aus dem Nichts“ war Bohm als Co-Autor beteiligt. 2018 erhielt er zwei Deutsche Filmpreise: den Ehrenpreis sowie den Drehbuchpreis für „Aus dem Nichts“.