Jedes Jahr im Herbst streiten Arbeitgeber und Gewerkschaften über die Lehrstellenbilanz. Diesmal eint sie die Sorge um den Fachkräftemangel. Die Wirtschaft wirft der Politik vor, den Nachwuchs in eine Schulkarriere statt in die Betriebe zu locken.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Am Anfang steht die frohe Botschaft: Die baden-württembergischen Unternehmen aus Industrie, Handel und Dienstleistung haben bis Ende September die Zahl der Ausbildungsverträge gesteigert. Zudem konnten fast 2700 Ausbildungsbetriebe hinzugewonnen werden. Alles super also?

 

Das sicher nicht. Denn der Zuwachs fällt viel geringer aus als im Vorjahr und dürfte bis auf weiteres der letzte sein, wie Andreas Richter, Hauptgeschäftsführer der IHK Region Stuttgart, gestern sagte. Wegen des demografischen Abwärtstrends erlebe die Wirtschaft einen Paradigmenwechsel. Die Unternehmen müssen sich bewegen, wollen sie künftig noch genügend Azubis anlocken und Fachkräftemangel verhindern. 1600 gerade kleinere und mittlere Betriebe suchen in der IHK-Lehrstellenbörse bereits nach Lehrlingen für das nächste Ausbildungsjahr – 30 Unternehmen bieten gar schon Plätze für 2014 an. Es sei ein Novum, dass so weit vorausgeplant werde, sagt Richter, der für die Ausbildung der zwölf Industrie- und Handelskammern im Südwesten federführend zuständig ist.

Der Fachkräftemangel sei mittlerweile das Problem, das von den Unternehmen an erster Stelle genannt werde. Im Hotel- und Gaststättengewerbe ist die Not schon jetzt groß. Der Nachwuchs meidet flexible Arbeitszeiten offenbar ebenso wie Stellen mit Lärm oder Schmutz. Aber auch dort, wo die Ausbildung auf Druck der Gewerkschaften inhaltlich anspruchsvoll gestaltet ist und eine höhere Qualifikation erfordert, treten Lücken auf.

Man kann an der großen Stellschraube Schulpolitik drehen

Die Metall- und Elektroindustrie hat diese Probleme bisher noch nicht. Im Gegenteil: Die verbandsgebundenen Unternehmen verzeichneten bei den Ausbildungsverträgen ein sattes Plus – 8,8 Prozent gegenüber dem Vorjahr. „Unsere Betriebe haben die Fachkräftesicherung klar im Blick“, sagt Südwestmetall-Chef Stefan Wolf. Die Metallindustrie sei der Motor des Ausbildungsmarkts. „Unsere Unternehmen nehmen ihre gesellschaftliche Verantwortung wahr.“ Aber auch hier ist Vorsicht angebracht: Die Zahl der unbesetzt gebliebenen Ausbildungsplätze ist um 29 Prozent gestiegen.Um den Mangel zu lindern, könnte man zum Beispiel verstärkt auf junge Menschen mit Migrationshintergrund zugehen, um sie besser ins Berufsleben zu integrieren. Eine Einstiegsqualifikation könnte schon viel bringen. Man kann aber an großen Stellschrauben drehen: in der Schulpolitik. Die IHK beschuldigt die Landesregierung, den Mangel an Lehrlingen zu provozieren, weil sie höhere Schulabschlüsse gegenüber der betrieblichen Ausbildung bevorzuge und fördere.

Beispiel: Der Anteil der Hauptschüler unter den Ausbildungsstartern ist binnen eines Jahres massiv gesunken. Hält diese Entwicklung an, wird es Hauptschüler, die nach neun Jahren die Schule verlassen, künftig kaum noch geben, weil sie entweder die Werkrealschule, die Gemeinschaftsschule oder die Berufsfachschule besuchen. Wenn ein Teil von ihnen dann noch eine weitere Schulkarriere auf dem Berufskolleg anstrebt, „mündet die Bildungspolitik in einer Sackgasse“, sagt Richter. Die duale Ausbildung in Schule und Betrieb geht somit schwierigen Zeiten entgegen.

Gewerkschaftsbund macht eine eigene Rechnung auf

Kritik findet vor allem die Koalitionsvereinbarung, dass bald die Hälfte eines Abiturjahrgangs studieren soll. Dabei zeigen Prognosen wie die des IHK-Fachkräftemonitors Baden-Württemberg, dass angesichts der 2012 und 2013 rund 230 000 fehlenden Fachkräften die beruflich Ausgebildeten mit hoher Qualifikation besonders rar gesät sind: Gesucht werden demnach 128 000 Techniker, Fach- und Betriebswirte, Meister und Fachkaufleute. Bei den Akademikern sei der Mangel geringer: 2013 fehlen demnach 28 000 Ingenieure und 11 000 Akademiker anderer Fachrichtungen. Er sei ja dafür, dass jeder Jugendliche die gebotenen Chancen wahrnehme, sagt Richter. „Aber die Menschheit wird nicht glücklicher oder besser, wenn alle studieren.“ Der Königsweg zur Fachkräftesicherung sei die Ausbildung im Betrieb.Die IHKs fordern Grün-Rot auf, die berufliche Bildung als echte Alternative zu Abitur und Studium in der Gesellschaft zu verankern. Die Landesregierung mache einen „riesigen Fehler“, wenn sie den bisherigen Kurs weiterverfolge. Statt Lehrerstellen an den Berufsschulen abzubauen, müssen 400 neue Stellen binnen drei Jahren geschaffen werden. Zudem verlangen die Kammern und Südwestmetall, die Wirtschaft in die regionale Schulentwicklungsplanung einzubinden.

Der Gewerkschaftsbund macht Jahr für Jahr eine eigene Rechnung auf, denn stets hält er die Ausbildungsbilanz der Wirtschaft für geschönt. Diesmal ist der Zungenschlag ein anderer: Die Situation werde sich durch den demografischen Wandel entspannen, sagte DGB-Vize Ingrid Sehrbrock neulich bei der Vorstellung des Ausbildungsreports 2012. Die Probleme würden damit nicht automatisch gelöst. So beklagten die Arbeitgeber zwar laut den Mangel an Bewerbern und Fachkräften. Auf der anderen Seite beteilige sich von 2,1 Millionen Betrieben nicht einmal ein Viertel an der betrieblichen Ausbildung. Tendenz: sinkend.

Viele Betriebe geben Ausbildung auf, weil sie keine Azubis finden

Zudem seien im Vorjahr 300 000 Jugendliche im „Übergangssystem“ gelandet: sie absolvieren das Berufsgrundbildungsjahr oder Berufsvorbereitungsjahr, machen Bewerbungstraining oder besuchen mangels Ausbildungsplatz weiterhin die Schule. „Kein Wunder, dass wir 1,5 Millionen Jugendliche zwischen 20 und 29 Jahren haben, die ohne Ausbildung sind und keinen berufsqualifizierenden Abschluss haben“, moniert Sehrbrock.

Es gibt diverse Gründe für die gegenläufige Entwicklung in Bund und Land: Da wäre insbesondere die Konjunkturabschwächung, die den Südwesten noch nicht mit voller Wucht erreicht hat. Sodann geben viele Betriebe die Ausbildung auf, weil sie keine Azubis finden. Drittens verschwinden Betriebe vom Lehrstellenmarkt, die man in der Krise 2008/2009 noch zum Ausbilden ermuntert hatte, ohne geeignet zu sein. „Wir haben eine Schutzaufgabe für Azubis“, begründet Richter einen punktuellen Entzug der Ausbildungsberechtigung durch die IHK.